: Blick für Brüche
TEXTE ZUM FILM Ein Sammelband erforscht die vielen Gesichter des Filmemachers Dominik Graf
Bequem ist Dominik Graf nicht. Andere Regisseure arbeiten frühzeitig und engagiert an einem „schlüssigen Werk“, verfeinern ihr ästhetisches Instrumentarium, entwickeln dabei eine stilistische Handschrift und ein klares Motivrepertoire, um schließlich eine monolithische Position in der Filmgeschichte einzunehmen. Ein Werk, geschaffen für den minutiösen Nachvollzug und den traditionsreichen Filmbuchtypus des Autorenfilmer-Bandes.
Bequem ist Dominik Graf nun deshalb nicht, weil er mit seinen mit Grimme-Preisen überhäuften TV-Filmen großes Kino macht, im Kino aber, wie in „Der Felsen“, den schmutzig-schön fragilen Urlaubsvideolook des frühen Digitalfilms zelebriert. Oder weil er das Genre wider den Themenfilm hochhält, ohne das Image eines rustikalen Mavericks zu pflegen, und dabei zugleich (wie zuletzt in „Lawinen der Erinnerung“) kluge Essayfilme dreht. Oder weil er über den Umweg des Sonntagabendkrimis die fahrige Fiebrigkeit des italienischen Thrillers in aufgeräumte Wohnstuben spült.
Ein weites Spektrum
Ein weites Spektrum spannt der neue, eine Vielzahl internationaler Filmwissenschaftler versammelnde Aufsatzband „Im Angesicht des Fernsehens“ entsprechend auf. Ein und derselbe Regisseur soll – unter anderem! – als Filmstudent von einem dialoglastigen Eric-Rohmer-Kino geträumt, später im Vorabend gemütliche („Köberle kommt“) bis ruppige („Der Fahnder“) Krimis gedreht, wiederholt kritisch die Abwicklung der DDR durch die alte BRD kommentiert, sich in einem behutsam konzentrierten Fernsehfilm („Bei Thea“) mit dem Nachkriegsverhältnis zwischen Deutschland und Israel befasst, die Schwelle zwischen Adoleszenz und Erwachsenenleben mehrfach beleuchtet, die Abgründe hinter der Fassade großer Unternehmerfamilien ergründet, in Essayfilmen variabler Länge wiederholt über Film-, Fernseh- und Stadtgeschichte meditiert und zugleich noch einen zentralen Actionthriller des BRD-Kinos der achtziger Jahre gedreht haben? Man glaubt es kaum.
Zu den zentralen Verdiensten dieser ersten filmwissenschaftlichen Annäherung an Grafs Werk zählt damit, dass sie das Polizeithriller-Image von Graf beiseiteschafft und den Blick für Vielfalt und Brüche in Grafs Werk schärft. Der Zugriff erfolgt meist streng analytisch, auf Grundlage genauer Sichtungen und Beobachtungen.
Zwar entsteht zuweilen der Eindruck, dass sich Methodenfolgsamkeit und Formwahrung am sprühenden Vitalismus der Filme reiben oder dass zumindest ein Überschuss bleibt, der sich einer etwas braven Filmwissenschaft entzieht. Michaela Krützen zeigt dabei in einer spannenden Vergleichslektüre von Grafs Beiträgen zu „Der Fahnder“ in den achtziger Jahren und zum „Polizeiruf 110“ von 2011, dass eine essayistische Annäherung der Erkenntnis nicht im Wege steht: Ausgehend von der Namensähnlichkeit konturiert sie den Polizeiruf-Kommissar Hanns von Meuffels als eine Gegenkonzeption zum Fahnder Hannes Faber und umspannt im Zuge auch gleich den historischen Wandel von Form und Storytelling im Fernsehkrimi. Geradezu archäologische Arbeit leistet Judith Früh, die in den Archiven der HFF München – Grafs Ausbildungsstätte – dessen erste filmische Gehversuche gesichtet hat. Schon darin zeige sich demnach Grafs später stärker ausgeprägter Abgrenzungswille gegenüber den da bereits erfolgreichen „Sensibilisten“ älterer HFF-Jahrgänge. Vor allem aber zeigt sich das Bild einer jungen Filmstudentengeneration, die mit der Ahnung lebt, dass sich ihr die Option des Autorenfilms nicht mehr bieten wird. Grafs in dieser Hinsicht noch ambitioniertes Debüt, der neonlichtkalte Psychothriller „Das zweite Gesicht“, kam 1982 zur Zeit der rigorosen Neuregelung der Filmförderung ins Kino, mit der das Projekt des Autorenfilms schlagartig abbrach.
Unbedingt lesenswert sind auch Daniel Eschkötters exakte Lektüren von Grafs um 2000 entstandene ZDF-Familienmelos, die deren verästelten melodramatischen Strukturen feinfühlig nachspüren und dabei noch eine kleine Philosophie des Zooms bei Graf formulieren. Vorangestellt ist ein weiteres der vielen spannenden, ausführlichen Gespräche mit dem Filmemacher. Graf, der ausgesprochen antiauteuristische Auteur, sucht – in Filmkritiken, Werkstattgesprächen und ausführlichen Radiobeiträgen – den cinephilen Diskurs wie kaum ein anderer deutscher Regisseur. Tatsächlich zählt auch dieses Gespräch, aller soliden Forschungsarbeit zum Trotz, zu den erkenntnisreichsten Beiträgen. Bequem ist Graf auch für die Wissenschaft nicht.
THOMAS GROH
■ Chris Wahl u. a. (Hrsg.): „Im Angesicht des Fernsehens. Der Filmemacher Dominik Graf“. Edition Text + Kritik, München 2012, 355 Seiten, 26 Euro