Indiens neuer Premierminister: Noch nicht „Modi-fiziert“
So hoch die Erwartungen an Premierminister Modi vor dem Sieg waren, so gering sind nach 100 Tagen seine Leistungen. Ändert sich das jetzt?
DELHI taz | Als Narendra Modi am Freitag zu seiner ersten Rede am Roten Fort in Delhi als Premierminister ansetzt, sind die Erwartungen seiner Landesleute riesengroß. Gut zwei Monate ist der Hindunationalist nun im Amt. Als Spitzenkandidat der Bharatiya-Janata-Partei (BJP) hatte er einen überwältigenden Wahlsieg errungen. Millionen Inder hoffen seither auf grundlegende Reformen. Doch der große Wurf blieb bislang aus. Tausende sind deshalb am Unabhängigkeitstag hier zusammengeströmt, um Modis Pläne zu vernehmen.
Meist nutzen Indiens Regierungschefs den historischen Tag des 15. August, um Warnungen an den Erzfeind Pakistan zu senden und gleichzeitig eigene Errungenschaften zu loben. Doch Modi macht gerne vieles anders.
In seiner gut einstündigen Rede geht er mit seinen Landsleuten hart ins Gericht: Die nicht abreißende Serie von Vergewaltigungen sei eine Schande für Indien. Mit erhobenem Zeigefinger fordert Modi die Eltern auf, Verantwortung für das Verhalten ihrer Söhne zu übernehmen. Die meist jugendlichen Vergewaltiger hätten Eltern, mahnt er: „Diese Eltern müssen ihren Söhnen den Unterschied zwischen richtig und falsch beibringen.“
In Zukunft soll jeder Inder Zugang zu einer Toilette haben, verspricht der Premier – vor allem auf dem Land verfügen nur wenige Haushalte über eigene Toiletten, Frauen müssen nachts in der Dunkelheit auf den Feldern ihre Notdurft verrichten und sind in solchen Situationen Angriffen schutzlos ausgeliefert.
Jeden Stein im Land umdrehen
Dass Modi sich so ausführlich zu dem Thema Gewalt gegen Frauen äußert, ist überraschend. Bislang blieb Indiens Regierungschef bei diesem Thema still und stellte vor allem seine wirtschaftlichen Pläne aus dem Wahlkampf in der Vordergrund. Vor knapp zwei Monaten hatte der Mann aus Gujarat nicht weniger versprochen, als aus Indien ein neues Land zu machen. Noch in seiner Grußkarte zum Unabhängigkeitstag versprach er, jeden Stein auf dem Subkontinent umzudrehen, um das Land nach vorne zu bringen.
Doch bislang setzte Modi vor allem international Akzente. Die Verhandlungen der Welthandelsorganisation (WTO) über ein weltweites Handelsabkommen ließ er vor wenigen Wochen scheitern, obwohl sein Land wenige Monate zuvor noch zugestimmt hatte. Dass ausgerechnet die als wirtschaftsfreundlich geltende Regierung Modi ein solches Abkommen blockierte, galt vielen als Beleg dafür, dass Indien kein verlässlicher Partner sei. Allerdings hätte Indien sein umfassendes staatliches Ernährungsprogramm für mehr als 250 Millionen Menschen, die selbst nach indischen Maßstäben als arm gelten, dann radikal kürzen müssen.
Im Bereich Außenpolitik hat Modi große Betriebsamkeit entwickelt. Zu seiner Amtseinführung am 26. Mai lud der Inder die Regierungschefs von Afghanistan, Bangladesch, Bhutan, Nepal, den Malediven, Sri Lanka und Pakistan ein. Vor allem sein Handschlag mit Pakistans Regierungschefs Nawaz Sharif sorgte für großen Optimismus und schürte Hoffnungen auf einen Neuanfang. Manoj Joshi vom indischen Forschungsinstitut „Observer Research Foundation“ in Delhi lobt: „Diese Herangehensweise ist sehr wichtig. Indien muss seine Vormachtstellung in dieser Region festigen, um später auch international eine größere Rolle spielen zu können.“
Verhedderte Regierung
Innenpolitisch blieb Modi jedoch bislang vieles schuldig. Statt das Land zu „Modi-fizieren“, ging der neue starke Mann im eigenen Land auf Tauchstation. Der Posten des Medienberaters blieb unbesetzt. Modi gab keine Interviews. Auch seinen Regierungsmitarbeitern wurde von öffentlichen Interviews abgeraten. Sie sollten sich nur äußern, wenn Modi selbst bereits eine offizielle Linie vorgegeben habe. Aber es gab keine.
Modis erste große Maßnahme war ein Haushaltsentwurf – und der entpuppte sich aus Sicht vieler Beobachter als profan und banal. Modi habe es versäumt, zu Beginn seiner Amtszeit eine klare Vision zu formulieren, heißt es seitdem. „Es ist sicherlich noch ein wenig früh, aber die neue Regierung hat sich erstaunlich schnell in einem Gewirr aus Kleinigkeiten, Entschuldigungen und Risikovermeidung verheddert“, urteilt Pratap Bhanu Mehta vom renommierten Forschungsinstitut „Centre for Policy Research“ in Delhi.
Dabei gibt es viel zu tun. Noch immer steigen die Preise für Lebensmittel rasant an, und auch das erhoffte höhere Wirtschaftswachstum unter Modi hat noch nicht eingesetzt. Dafür kam es in den vergangenen Wochen immer wieder zu gewaltsamen Ausschreitungen zwischen Hindus und Muslimen. Über 600 Zwischenfälle zählte die Tageszeitung Indian Express allein im bevölkerungsreichsten Bundesstaat Uttar Pradesh.
Gerade beim Thema Säkularismus sind die Vorbehalte gegenüber dem Hindu-Nationalisten Modi noch immer groß. „Es ist wichtig, dass Modis Regierung sofort Maßnahmen ergreift, um Frieden in dieser Region zu ermöglichen“, sagt Pranay Sharma von Magazin Outlook. „Unsere Wirtschaft wird sich nicht entwickeln und Firmen werden nicht investieren, solange sie sich nicht auf Recht, Gesetz und Frieden verlassen können.“
Ein Bankkonto für jeden Inder
In seiner Rede zum Unabhängigkeitstag sucht Modi nun nach einer ökonomischen Zukunftsvision. Indien müsse sich zu einem wettbewerbsfähigen Produktionsstandort entwickeln und exportorientierter werden, sagt er. Noch immer sei man zu abhängig von ausländischen Importen. Zudem sollen in Zukunft alle Inder ein Bankkonto bekommen – fast 40 Prozent der Inder verfügen über keinen oder nur begrenzten Zugang zu finanziellen Dienstleistungen. Bankkonten für alle würden es der Regierung erlauben, die vielen Nahrungs-, Benzin- und Düngersubventionen in direkte Geldtransfers umzuwandeln.
Die Reaktionen sind mehrheitlich positiv. Im Internet bezeichnen Kommentatoren seine Worte als erfrischend, inspirierend und beeindruckend. Doch Worte allein werden nicht genügen. Modi, der Mann der Tat, wird sich an seinen Taten messen lassen müssen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Utøya-Attentäter vor Gericht
Breivik beantragt Entlassung
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Böllerverbot für Mensch und Tier
Verbände gegen KrachZischBumm
Entlassene grüne Ministerin Nonnemacher
„Die Eskalation zeichnete sich ab“
Repression gegen die linke Szene
Angst als politisches Kalkül