Streit um Impfstoffversorgung: Die irrige Amtseid-Debatte

Im Impfstoff-Streit verweisen Kritiker immer wieder auf den Amtseid von Merkel und Ministern. Sie ignorieren jedoch den zweiten Teil des Eids.

Bundestagspräsident Norbert Lammert vereidigt Angela Merkel am 22.11.2005

Angela Merkel legte am 22.11.2005 ihren Amtseid ab Foto: Sven Simon/imago

Die Kanzlerin? Eine Eidbrecherin? Der Vorwurf steht aktuell hoch im Kurs, angestoßen zu Jahresbeginn durch die Bild-Zeitung, freudig aufgenommen von Wahlkämpfern der SPD und mittlerweile zigfach weitergetragen von rechtsnationalen Leserbriefschreibern und Facebook-Nutzern.

Die Argumentation in Kurzform: In ihrem Amtseid hat Angela Merkel geschworen, dass sie Schaden vom deutschen Volk abwenden werde. Entsprechend hätte sie dafür sorgen müssen, dass die Deutschen möglichst schnell möglichst viel von der Mangelware Corona-Impfstoff abbekommen. Die gemeinsame Bestellung mit den EU-Partnern – unter anderem mit dem Ziel, die Preise nicht für alle in die Höhe zu treiben – sei folglich der Eidbruch. Mit der gleichen Argumentation wurden Merkel in den vergangenen Jahren von rechts schon Eidbrüche in der Euro-Krise (wegen des Euro-Rettungsschirms für andere Staaten) und im Flüchtlingssommer 2015 (wegen der Aufnahme von Fremden) vorgeworfen.

Glücklicherweise lässt der Amtseid, der im Grundgesetz festgeschrieben ist, in Wirklichkeit diese Schlussfolgerung nicht so einfach zu. Zum einen schon deshalb nicht, weil solidarisches Handeln nicht automatisch deutschen Interessen widerspricht. In der Coronakrise zum Beispiel, weil ein Land alleine in einem vernetzten Kontinent nicht die Pandemie beenden kann.

Zum anderen hat der Amtseid noch einen zweiten Teil. Darin hat die Kanzlerin geschworen, das Grundgesetz und damit die Menschenwürde zu wahren und „Gerechtigkeit gegenüber jedermann“ zu üben – also nicht nur gegenüber der Bevölkerung in Deutschland. Aus diesem zweiten Teil könnte man ableiten, dass es gerade falsch wäre, möglichst viele Impfstoffdosen vom Markt wegzukaufen. Ungerecht wäre es schließlich, wenn für Nicht-Deutsche kein Impfstoff mehr verfügbar wäre.

Schon der Amtseid fordert also eine Abwägung zwischen rein deutschen Interessen und dem moralisch Richtigen, das auch altruistisch sein kann. Im Ringen darum kann man natürlich das eine oder das andere stärker betonen. Aber eine simple Antwort lässt sich aus dem Eid nicht ableiten.

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Geboren 1988, arbeitet seit 2013 für die taz. Schreibt als Parlamentskorrespondent unter anderem über die Grünen, deutsche Außenpolitik und militärische Themen. Leitete zuvor das Inlandsressort.

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