Brexit-Verhandlungen mit der EU: Deal oder was?

Der Vertrag zwischen Großbritannien und der EU scheint so gut wie fertig. Ein „No Deal“ bleibt dennoch möglich.

Lkw stehen auf der Autobahn nach Dover im Stau

Zäh wie die Brexit-Verhandlungen: der Stau an der französischen Grenze löst sich nur langsam auf Foto: Peter Nicholls/reuters

Was ist der Stand der Dinge?

Am 31. Januar 2020 hat Großbritannien gemäß dem Austrittsabkommen von 2019 die EU verlassen. Bis zum Jahresende gilt die vereinbarte Übergangsfrist, während derer das Land Teil von EU-Binnenmarkt und -Zollunion bleibt. Auch EU-Regeln gelten in dieser Zeit weiter, London zahlt noch in den EU-Haushalt ein und bekommt EU-Gelder. All das erlischt jedoch am 31. Dezember. Am 1. Januar 2021 soll ein Vertrag über die zukünftigen Beziehungen in Kraft treten. Über ihn wird seit Monaten verhandelt. Bis Mittwoch früh war sein Entwurf auf 2.000 Seiten angeschwollen und nach Angaben beider Seiten war man sich zu über 95 Prozent einig – vor allem bei klassischen Fragen des zollfreien Handels. Blieben 100 Seiten Streitfragen. Am Mittwochnachmittag meldeten ungenannte Quellen beider Seiten zum Redaktionsschluss, man stünde kurz vor einer Einigung.

Worüber wird genau gestritten?

Öffentlich sichtbarster Streitpunkt ist die Fischerei – Großbritannien will die bestehenden EU-Fischereirechte in britischen Gewässern beenden, notfalls erst nach einer weiteren Übergangszeit und nur teilweise. Die EU will sie behalten, notfalls nur für eine Übergangszeit und danach teilweise. Eine Lösung erscheint also grundsätzlich einfach, aber bisher waren die Zugeständnisse beider Seiten für die jeweils andere ungenügend, vor allem für Frankreich. Darüber hinaus gibt es viel Uneinigkeit bei der Frage der fairen Wettbewerbsbedingungen, einschließlich Subventionen und Beihilfen. Als Knackpunkt hat sich ausgerechnet der neue Coronahilfsfonds erwiesen, der 2021 in Kraft tritt: Die EU will aus dem schuldenfinanzierten Fonds direkte Zuschüsse an Krisenländer wie Italien zahlen. Großbritannien wertet dies als Staatsbeihilfe und fordert dasselbe Recht für sich. Unklar ist auch, wer wie festlegen darf, dass Wettbewerbsbedingungen verletzt wurden – der wunde Punkt in den meisten Handelsverträgen.

Nach einem Jahr voller Abstand und Kontaktbeschränkungen widmen wir uns in unserer Weihnachtsausgabe dem Gefühl, ohne das 2020 wohl erst recht nicht auszuhalten gewesen wäre: der Liebe. Muss man sich wirklich selbst lieben, um geliebt werden zu können? Hilft der Kauf eines Flügels bei der Auseinandersetzung mit dem Kind, das man einmal war? Und was passiert eigentlich mit all den Lebkuchenherzen, die nicht auf Weihnachtsmärkten verkauft werden konnten? Ab Donnerstag am Kiosk, im eKiosk, im praktischen Wochenendabo und rund um die Uhr bei Facebook und Twitter.

Einigen die sich doch noch zum 1. Januar?

Das ist möglich. Am Mittwoch startete die EU-Kommission die Vorbereitungen, damit die Mitgliedstaaten einen Vertrag provisorisch unter Parlamentsvorbehalt in Kraft setzen können. Das Europaparlament hat eine förmliche Ratifizierung noch dieses Jahr nämlich ausgeschlossen. Auf britischer Seite könnte das Unterhaus nach Weihnachten zu einer Sondersitzung zusammenkommen. Das größte Problem ist aber: Niemand außer den Beteiligten kennt bisher den Verhandlungstext. Eine seriöse Prüfung von 2.000 Seiten Vertragstext durch alle 27 EU-Regierungen sowie die Parlamente in Brüssel und London ist dieses Jahr nicht mehr vorstellbar, und sobald sie stattfindet, dürften Einwände auftauchen. Man erinnere sich an das geplatzte EU-US-Freihandelsabkommen TTIP und das verzögerte EU-Kanada-Freihandelsabkommens Ceta. Das EU-britische Abkommen betrifft weitaus mehr Politikbereiche, von Hochschulen über Stromnetze bis zur inneren Sicherheit.

Was ändert sich bei einer Einigung?

Da Großbritannien EU-Binnenmarkt und -Zollunion verlässt, wird es auf jeden Fall Zollkontrollen geben, selbst wenn keine Zölle fällig werden. Ebenso dürften Reisende schärfer kontrolliert werden, da es kein dauerhaftes Niederlassungsrecht für Neueinreisende aus Großbritannien in der EU oder umgekehrt mehr gibt.

Was passiert ohne Einigung am 1. Januar?

Die Kontrollen werden noch schärfer, wobei Großbritannien den Verkehr zumindest am Anfang noch durchwinken will. Alle Warenströme zwischen der EU und Großbritannien benötigen in Zukunft Exportzertifikate. Das trifft auch auf Sendungen per Post zu. Wer in der EU etwas über einen britischen Anbieter kauft oder umgekehrt, muss mit der Notwendigkeit von Einfuhrerklärungen rechnen. Zölle werden fällig, und für den Handel gelten die Richtlinien der Welthandelsorganisation WTO. Für die meisten Waren liegen die Zölle bei durchschnittlich 2,8 Prozent. Auf Fahrzeuge werden 10 Prozent fällig, auf Milchprodukte 35 Prozent, für Rindfleisch und Lamm sogar zwischen 40 und 80 Prozent. In der Fischerei würden EU-Boote den Zugang zu britischen Gewässern komplett verlieren und umgekehrt. No-Deal-Notfallregeln beider Seiten sollen für die ersten sechs Monate gewährleisten, dass dies nicht auch für den Verkehr gilt. Pharmaverbände auf beiden Seiten schätzen, dass sich die Beschaffung von Medikamenten um bis zu sechs Wochen verlangsamen könnte.

Sollte es doch einen „No Deal“ geben, was hieße das für die Briten?

Zentralbankchef Andrew Bailey warnt, dass ein No Deal“ mehr Schaden anrichten kann als die Covid-19-Pandemie. Laut Rechnungshof würde die britische Wirtschaft um mindestens 2 Prozentpunkte zusätzlich schrumpfen, auch das Pfund könnte auf den Devisenmärkten abstürzen. Viele Exporteure, die auf EU-Kunden angewiesen sind, stünden vor dem Ruin. Lebensmittel aus EU-Staaten – 25 Prozent der Lebensmittel in Großbritannien – würden teurer werden. Importe aus Nicht-EU-Staaten hingegen werden billiger, egal ob Deal oder „No Deal“, da die von Großbritannien vorgesehenen Zölle niedriger sind als die der EU.

Und was wären die Folgen ­für Menschen in Kontinentaleuropa?

Wer nicht gerade nach UK reisen will, dürfte wenig merken. Anders sieht es für die Unternehmen aus, die mit Großbritannien Handel treiben. Sie müssen sich auf mehr Bürokratie, Zölle und einen Umbau der Lieferketten einstellen – denn der reibungslose Handel im Rahmen des Binnenmarkts ist dann nicht mehr möglich. Unabhängig von Deal oder „No Deal“ ist die Einreise nach Großbritannien ab dem 1. Oktober 2021 für EU-Bürgerinnen und -Bürger nur noch mit einem Reisepass möglich, es sei denn, sie haben Bleiberecht im Vereinigten Königreich. Aufenthalte von über 180 Tagen erfordern dann ein Visum.

Was passiert mit den Briten, die zum Beispiel in Deutschland, Frankreich oder Spanien leben? Und was ist mit EU-­Bürgern in ­Großbritannien?

Bestehende Aufenthaltsrechte bleiben unverändert gültig; dies wurde bereits im Brexit-Abkommen 2019 festgelegt und gilt unabhängig vom Ausgang der laufenden Gespräche. Auch Renten werden weiter zu den bestehenden Konditionen bezogen. Allerdings können keine britischen Bankkonten mehr aus der EU heraus geführt werden. Im Vereinigten Königreich ansässige EU-Bürger*innen müssen ihren Antrag auf Bleiberecht (Settled Status) bis zum 30. Juni 2021 stellen. Personen, die erst ab 2021 aus der EU nach Großbritannien ziehen wollen oder umgekehrt, gelten nach dem jeweiligen Einwanderungsrecht als Migranten. Briten mit Zweitwohnsitz in der EU müssen einen Aufenthaltsstatus erlangen, sonst dürfen sie maximal 90 Tage innerhalb einer 180-Tage-Periode dort verbleiben.

Wie würde die EU ­konkret mit einem „No Deal“ umgehen?

Die EU-Kommission hat eine Reihe von Notfallgesetzen vorgelegt. Für den Flug- und Straßenverkehr mit Großbritannien sollen zunächst für sechs Monate Sonderregeln gelten – „unter der Voraussetzung, dass das Vereinigte Königreich dasselbe beschließt“. Zudem haben Frankreich, Belgien und die Niederlande eigene Vorkehrungen getroffen, um ein Verkehrschaos an den Fähren nach England zu vermeiden. In Deutschland und weiteren Ländern sind die Flughäfen in Alarmbereitschaft. Die Lufthansa prüft eine Ausweitung ihres Angebots für Luftfracht. Die deutsche Botschaft in London empfiehlt allen Großbritannien-Besuchern, ab dem 1. Januar „rein vorsorglich“ eine Auslandsreisekrankenversicherung abzuschließen. Die Bundesrepublik plant eine Vereinbarung zur gegenseitigen Anerkennung von Fahrerlaubnissen.

Warum wird die Frist nicht ­ein­­fach verlängert?

Eine Verlängerung macht Sinn, wenn man schon auf der Zielgeraden ist und alle großen Streitfragen ausgeräumt wurden. Bis zum Redaktionsschluss am frühen Mittwochabend war das trotz angeblich weit fortgeschrittener Verhandlungen unklar. Dass die laufende Übergangszeit mit dem Jahr 2020 endet, ist im Brexit-Vertrag von 2019 festgelegt. Dies zu ändern bedarf einer Vertragsänderung, die auszuhandeln wäre. Großbritannien fürchtet, dass die EU dann London verpflichten würde, auch in den nächsten Sieben-Jahres-Haushalt der EU ab 2021 einzuzahlen, und hat eine Verlängerung gesetzlich ausgeschlossen. Die EU wäre bereit, am 31. Dezember die Uhr anzuhalten oder auch nach dem 1. Januar weiterzuverhandeln – damit gäbe es dann aber trotzdem erstmal einen „No Deal“ zum Jahreswechsel.

Ist wegen des mutierten ­Coronavirus nicht ohnehin ­al­les durcheinander?

Die meisten EU-Staaten haben Flüge aus Großbritannien gestoppt, Frankreich auch den Fähr- und Tunnelverkehr. Am Mittwoch öffnete die Frankreich die Grenze zwar wieder, jedoch nur für Lkw-Fahrer mit negativem Coronatest. Vom chaotischen Szenario an der Grenze würde sich ein „No Deal“ wohl kaum unterscheiden.

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