Europas Versagen: Wofür Moria steht

Läge Moria in Mali und nicht in Griechenland, wäre die EU schon längst aktiv. In Afrika gibt sich die EU hilfsbereiter als in Europa.

Wasserflaschen werdn von einem LKW geworfen.

Moria nach dem Brand: Eine NGO verteilt Wasserflaschen, wer Glück hat, bekommt was ab Foto: Alkis Konstantinidis/reuters

Wo sind die Flugzeuge? Wo sind die Armeen von Helfern, die mit Gütern des überlebensnotwendigen Bedarfs zu den Notleidenden eilen? Wo sind die UN-Profis mit ihren Zeltstädten und Registrierungssystemen? Wo sind die Evakuierungsflüge? In der Nacht zum Mittwoch brannte auf der griechischen Insel Lesbos das Flüchtlingslager Moria nieder.

Wir würden Ihnen hier gerne einen externen Inhalt zeigen. Sie entscheiden, ob sie dieses Element auch sehen wollen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.

Fünf Tage später sitzen fast alle seiner Bewohner immer noch auf der Straße. Für ihr Obdach müssen sie selbst sorgen, Wasser und Brot sind Glückssache. Die lokale Bevölkerung sieht sie als gefährliche Virenträger, die Polizei hält sie mit Tränengas in Schach.

„Das ist jenseits von Worten“, berichtete im WDR-Fernsehen am Samstagabend eine erfahrene Reporterin. „Du gehst hier rein, hinter der Polizeikontrolle, du hörst keine Stimmen, und dann liegen die da alle. Nicht Hunderte. Tausende.“ Am Sonntag war nicht einmal das mehr möglich. Die Polizei hatte die Flüchtlinge abgeriegelt – von den Medien und von Hilfsorganisationen. Die Leute kollabieren vor Durst, auf einer Insel mit Tagestemperaturen von über 30 Grad, auf der es seit Mai nicht geregnet hat.

„Das ist nicht Europa“, behauptete die Reporterin. Doch. Das ist Europa. Genau das. Menschen verdursten auf der Straße, während europäische Politiker in europäischen Hauptstädten über eine „europäische Lösung“ faseln: 150 hier, 400 da, unbegleitete Minderjährige rausholen, vielleicht noch andere, aber nur vom griechischen Festland und nur wenn mehrere Länder mitmachen. Als Menschen kommen die Flüchtlinge bei diesen Diskussionen nicht vor. Ein totes Wildschwein in Brandenburg bringt die Behörden schneller zum Handeln.

12.600 Flüchtlinge lebten zuletzt in Moria. Europa gibt sich von diesen 12.600 Menschen überfordert, als seien es 12,6 Millionen. 12.600 – das war die Obergrenze der UN-Blauhelmmission in Mali, als sie 2013 entstand. Mali hatte für sie Platz, Mali rollte ihnen den roten Teppich aus wie zuvor den französischen Soldaten. Bundeswehrsoldaten, die in Mali im EU-Auftrag Ausbildung betreiben, wohnen im Luxushotel und erhalten zugleich Gefahrenzulagen.

Europa in Mali großzügig

Moria steht auch für das Scheitern des europäischen Anspruchs auf moralische Führung in der Welt

In Mali gibt sich die EU großzügig, mit 350 Millionen Euro humanitärer Hilfe in den vergangenen acht Jahren. „Wann auch immer ein Konflikt eine Massenvertreibung von Menschen hervorruft, sind EU-finanzierte Hilfsorganisationen in Mali dazu ausgestattet, schnell zu reagieren und verletzliche Menschen mit Notunterkünften, Lebensmittelhilfe, Zugang zu sauberem Wasser und Gesundheitsversorgung, Schutz und dem Nötigsten zum Überleben zu versorgen“, prahlt die Mali-Seite der humanitären EU-Koordinierungsstelle ECHO. „Bedürftigen wird geholfen, sich im Laufe der Zeit gegen wiederholende Krisen zu wappnen, was sie für die Zukunft weniger verletzlich macht.“

Müsste man die 12.600 Menschen aus Moria also nach Mali schicken, damit die EU ihnen unter die Arme greift? Die Zahlen sprechen für sich. In Mali beantragten im Jahr 2018 nach Angaben des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR 9.918 Menschen Asyl, die meisten aus den Nachbarländern Niger und Burkina Faso, aber auch 330 aus Syrien, 22 aus Bangladesch und 5 aus der Türkei. Die Aufnahmequote, laut UNHCR: 100 Prozent.

Umgekehrt suchten demnach 7.265 Malier in anderen Ländern Asyl, die meisten in Frankreich und Italien. Die Aufnahmequoten: Frankreich 18,5 Prozent, Deutschland 3,3 Prozent, Italien 2,9 Prozent; eine Aufnahmequote von 0,0 Prozent verzeichneten Spanien sowie Griechenland, Luxemburg, die Niederlande, Österreich und Portugal, auch manche afrikanische Länder wie Nigeria und Südafrika. In den USA lag die Aufnahmequote für Malier bei 44,4 Prozent, in Kanada bei 58,3 Prozent und damit Weltspitze.

Symbol des Scheiterns
Kinder übernachten am Straßenrand

Von Europa im Stich gelassen: Geflüchtete auf der griechischen Insel Lesbos Foto: Alkis Konstantinidis/reuters

Moria ist ein Symbol des Scheiterns der europäischen Flüchtlingspolitik, heißt es oft. Aber dieses Scheitern besteht im Grunde darin, dass diese Menschen überhaupt da sind. Europa betreibt schließlich seit Jahren eine konsequente Flüchtlingsabwehr, mit Nachbarländern wie der Türkei als Türsteher, die man dafür bezahlt, dass niemand mehr herkommt, und mit aktiver Pushback-Politik auf hoher See. In Afrika werden mit EU-Unterstützung Grenzen hochgezogen, Überwachungs- und Kontrollsysteme aufgebaut, Reisefreiheiten gestrichen. Wer doch durchkommt, dem werden die Menschenrechte und die Menschenwürde verweigert. Es ist alles mehr oder weniger rechtswidrig, aber wen in Europa schert schon das Recht, wenn nur Nichteuropäer unter seinem Bruch leiden?

Das ständige Beschwören einer „europäischen Lösung“ ist eine Ausrede fürs Nichtstun: Ja, ich würde ja Flüchtlinge aufnehmen, aber nur wenn alle 27 EU-Staaten es machen. Man stelle sich vor, die europäischen Länder würden ihre Corona­politik dergestalt betreiben: Ja, wir brauchen wohl Kontaktbeschränkungen und Testmöglichkeiten und Hilfe für die Wirtschaft, aber erst wenn alle 27 Mitglieder es gleichzeitig tun? Dann wären schon Millionen Europäer an Covid-19 gestorben und die Wirtschaft befände sich im freien Fall. Aber so funktioniert die europäische Flüchtlingspolitik.

Moria steht daher auch für das Scheitern des europäischen Anspruchs auf moralische Führung in der Welt. Wo „europäische Werte“ in der Praxis „Werte nur für Europäer“ sind, stehen sie im Widerspruch zu den universellen Werten. Dass in Afrika – und in Asien und im Nahen Osten – Europa als moralische Instanz nicht mehr glaubwürdig ist und nicht mehr angehört wird, hat auch damit zu tun. Afrikaner und Asiaten arbeiten nach Kräften daran, dass sie irgendwann Europa und die Europäer nicht mehr brauchen, weder als Konkurrenten noch als Partner. Nicht durch das Zulassen von Migration, sondern durch seinen Hochmut gegenüber den restlichen 90 Prozent der Welt schafft Europa sich ab.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Seit 2011 Co-Leiter des taz-Auslandsressorts und seit 1990 Afrikaredakteur der taz.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.