Corona-Proteste am Reichstagsgebäude: Den Schlagstock im Gürtel lassen

Der Ruf nach hartem Durchgreifen der Polizei gegen die Coronaleugner ist nachvollziehbar. Eine adäquate Antwort von links ist es nicht. Im Gegenteil.

Polizisten mit Helmen vor dem Reichstagsgebäude

War die Polizei zu zurückhaltend? Uniformierte am Samstag vor dem Bundestag Foto: Christian Mang/reuters

Wo, ja wo bleibt eigentlich der Wasserwerfer? Und warum greift die Polizei da nicht durch? So wie sie es bei linken Demos auch macht? Mit aller Gewalt der Staatsgewalt? Angesichts der massiven Verstöße gegen Demonstrationsauflagen bei dem Massenaufmarsch der Coronaleugner:innen drängten sich Fragen am Samstag geradezu auf – und sie wurden am Rande der Proteste, in Gesprächen und den omnipräsenten, sozialen Medien gerade auch in der gesellschaftlichen Linken vielfach gestellt.

Das ist mehr als verständlich. Und dennoch komplett daneben. Diese linke Sehnsucht nach einem starken Staat muss einem fast schon so viele Sorgen machen wie das unerträgliche und weiter wachsende Protestgemisch aus Coronaskeptikern, Reichsbürgern, staatskritischen Esoterikern und anderen Hippies. Denn zweifelsohne ist Kritik an überzogenen, überharten und übergriffigen Einsätzen von Polizei gegen linke Proteste angebracht und leider immer wieder notwendig. Gerade deshalb aber verbietet sich jeder Wunsch nach mehr Polizeigewalt, so verlockend er auf den ersten Blick auch sein mag.

Zudem muss man auch mal den Schlagstock im Gürtel lassen. Und stattdessen genau hinsehen. So hat die Berliner Polizei auch am Samstag ihre Wasserwerfer aufgefahren – als Drohgebärde. Tatsächlich zum Einsatz kamen sie aber nicht. Das ist übrigens fast schon eine Tradition der Haupstadtpolizei. Sie hat ihre Luxuswasserpistolen schon seit mehr als zehn Jahren allenfalls zum Gießen sommerdarbender Bäume eingesetzt. Mit der Bewässerung von Demonstrant:innen aber, egal ob sie von rechts oder links kommen, halten sich die Berliner Ordnungshüter anders als ihre Kolleg:innen in anderen Bundesländern sehr zurück. Und das ist gut so.

Auch auch mit Kritik an dem Fakt, dass sich die Polizei vor dem Reichstagsgebäude von den offen rechten Treppenfans hat überrennen lassen, sollte man zurückhaltend sein. Denn sie impliziert die Forderung nach einer Aufrüstung der Sicherheitskräfte, die aus linker Sicht niemand ernsthaft wollen kann.

Ein gutes Zeichen für den demokratischen Zustand

Das Umgehen von Polizeiketten gehört schon immer zum Standard sämtlicher Bewegungen – auch und gerade bei Protesten von links. Mit der einst von Anti-Atom-Aktivist:innen ersonnenen Fünf-Finger-Taktik, mit der in mehrere Kleingruppen aufgesplittete Demonstrant:innen Polizeiketten umfließen, wurde sie sogar zu einer zentralen Aktionsform – zuletzt vor allem bei den Anti-Kohle-Protesten von Ende Gelände.

Dass die Polizei bei Protesten – ob in einer Braunkohlegrube oder am Gatter vor dem Reichstag – eben keine absolut unüberwindliche Macht darstellt, ist ein gutes Zeichen für den demokratischen Zustand dieser Republik. Gerade bei einem Einsatz im Schatten des Parlaments muss die Verhältnismäßigkeit gewahrt werden. Denn was ist denn passiert? Ein paar hundert Menschen sind eine Treppe hochgelaufen. Ja, mit wegen ihrer Symbolkraft unerträglichen Fahnen. Mehr aber auch nicht.

Die Möchtegernumstürzler haben sich dann sogar von nur drei Beamten stoppen lassen. Fast könnte man den Eindruck gewinnen, dass die Übermütigen dem Hohen Haus des Bundestags am Ende noch Respekt erwiesen haben. Ein revolutionärer Akt, der einem so sehr Sorgen machen müsste, dass man mit Gewalt dagegen vorgehen muss, sieht jedenfalls anders aus.

Linkes Nachdenken über die Ereignisse am Samstag sollte daher weniger das Verhalten der Polizei in den Fokus stellen als die eigene Erfahrung mit Protesten. Da wird schnell klar: Solche Momente wie der Treppenwitz vor dem Bundestag sind für jede Bewegung sinnstiftend. Ihre Bedeutung geht weit über den Moment hinaus – nach außen, vor allem aber nach innen. So entstehen Mythen, aus denen jede Bewegung Kraft schöpft. Sie setzen Energien frei, so sehr, dass die Aktivist:innen ihre Bedeutung vollkommen überschätzen.

Nötig wäre ein Aufbegehren der Zivilgesellschaft

Wie aber soll man damit von links umgehen? Bei Pegida, AfD-Demos und sonstigen rechtsextremen Aufzügen hat die linke Öffentlichkeit lange auf Gegenprotest vor Ort gesetzt, um dem Größenwahn der Rechten etwas entgegenzustellen. Ihn zu relativieren. Schließlich wurde mit der Unteilbar-Demo im Herbst 2018 ein unübersehbares Zeichen gesetzt – gerade weil es keine Gegendemo war, kein Versuch, etwas zu verhindern, sondern ein eigens gesetzter Aufstand der Zivilgesellschaft gegen den rechten Rand.

Etwas Ähnliches wäre genau jetzt dringend wieder nötig. Das Potenzial ist ja durchaus gegeben. Umfragen zeigen, dass der weitaus größte Teil der Bundesbürger die wegen der Pandemie erlassenen Beschränkungen wie Maskengebote und Abstandsbitten für angemessen hält. Oder sogar für zu lasch. Doch eine Massendemonstrationen für die Akzeptanz von Corona-Schutzmaßnahmen? Das wäre geradezu absurd. Das macht ratlos. Wirklich ratlos.

Aber kann diese Ratlosigkeit ein Argument sein, um nach mehr Staatsgewalt zu rufen?

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Leiter des Regie-Ressorts, das die zentrale Planung der taz-Themen für Online und Print koordiniert. Seit 1995 bei der taz als Autor, CvD und ab 2005 Leiter der Berlin-Redaktion. 2012 bis 2019 Leiter der taz.eins-Redaktion, die die ersten fünf Seiten der gedruckten taz produziert. Hat in Bochum, Berlin und Barcelona Wirtschaft, Gesellschafts- und Wirtschaftskommunikation und ein wenig Kunst studiert. Mehr unter gereonasmuth.de. Twitter: @gereonas Mastodon: @gereonas@social.anoxinon.de Foto: Anke Phoebe Peters

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.