Tod bei Abschiebung: Griff in die Genitalien

Vor 20. Jahren starb der Sudanese Aamir Ageeb durch Gewalt von Polizisten. Er war der zweite Tote bei einem Abschiebungsflug aus Deutschland.

Proteste auf der Lufthansa-Hauptversammlung 2002 in Köln Foto: dpa

Ein Gastbeitrag von Bernd Mesovic von Pro Asyl

Am 28. Mai 1999 wird der Sudanese Aamir Ageeb, 31 Jahre alt, schon in einer Gewahrsamszelle wie ein Bündel verschnürt. Als er an Bord des Lufthansa-Flugs LH 588 auf dem Frankfurter Flughafen gebracht wird, setzten Polizisten des Bundesgrenzschutz (BGS) dem abgelehnten Asylbewerber einen Motorradhelm auf. Im Flugzeug werden zusätzlich zur Fesselung seiner Oberschenkel seine Arme an den Sitzlehnen und die Beine am Sitz mit Klettbändern fixiert. Als Ageeb schreit, drücken die Polizisten seinen Oberkörper nach unten und seinen Kopf nach vorne. Nach dem Erlöschen der Anschnallzeichen wird klar: Das hatte der Zwangspassagier nicht überlebt. Ein „lagebedingter Erstickungstod durch massive Einwirkung von Gewalt“, so befand später die Rechtsmedizin. Es war vorsätzliche Körperverletzung.

Ageeb ist der zweite Tote bei einem Abschiebungsflug aus Deutschland. 1994 hatte Kola Bankole aus Nigeria ähnliche Gewalt durch Begleitbeamten nicht überlebt. Jahrelang waren die nötigen Konsequenzen vom Dienstherrn, dem Bundesinnenministerium (BMI), nicht gezogen worden, obwohl die Risiken in Forensiker- und Polizeikreisen bekannt waren. Politisch verantwortlich für die Toten: Der damalige Bundesinnenminister Manfred Kanther (CDU) und der allerdings erst ein halbes Jahr vor Ageebs Tod ins Amt gekommene Otto Schily.

Im Fall Ageeb ergingen milde Bewährungsstrafen gegen drei Grenzschutzbeamte. Sie hätten sich zwar der „Körperverletzung mit Todesfolge“ schuldig gemacht, so die Richter. Doch wegen des „Organisationschaos“ beim BGS wurde diese Straftat als minder schwerer Fall bewertet. Zudem wurde eine Strafminderung vorgenommen, weil die gesetzliche Mindeststrafe von einem Jahr Haft den Verlust des Beamtenstatus zur Folge gehabt hätte und diese Strafe dann nicht mehr verhältnismäßig gewesen sei. Sie kamen mit 9 Monaten Haft auf Bewährung und einer Zahlung von jeweils 2000 Euro an die Familie Ageebs davon.

Aber das Verfahren vor dem Landgericht Frankfurt hatte ans Licht gebracht, was beim BGS in den 90er Jahren an der Tagesordnung war: Die Durchsetzung von Abschiebungen mit lebensgefährlichen Zwangstechniken, wobei die Beteiligten vor ihren Vorgesetzen im Unklaren darüber gelassen wurden, wo die Grenzen liegen. Diese schauten zu, wie im Alltag mit Gewaltanwendung herumexperimentiert wurde – und wurden im Strafverfahren fast ausnahmslos weder als Zeugen gehört noch zur Verantwortung gezogen.

„Abu Ghraib lässt grüßen“

Abu Ghraib, der irakische Folterknast der Amerikaner, lasse grüßen, hatte der Vorsitzende Richter im Frankfurter Verfahren gesagt und zusammengefasst, wie ein Grenzschützer Aamit Ageeb bereits in der Gewahrsamszelle vorgefunden hatte: Auf dem Bauch liegend, Hände und Füße auf dem Rücken verschnürt, von Vorgesetzten war dies nicht moniert worde. Das BMI war damals empört über den richterlichen Vergleich, nicht über das Vorgehen.

Immerhin: Eine Konsequenz aus dem Strafverfahren war die Einführung einer umfangreichen Dienstanweisung („Best Rück Luft“) mit der Maxime „Keine Abschiebung um jeden Preis“. Sie gilt bis heute und verbietet unter anderem die Anwendung atembehindernder Techniken.

20 Jahre ist das her. Und immerhin: Tote bei Abschiebungsflügen aus Deutschland hat es danach nicht gegeben. Wirken also Dienstanweisung und verbesserte Ausbildung?

Griff in die Genitalien

August 2018: Der Europäische Ausschuss zur Verhütung von Folter und unmenschlicher und erniedrigender Behandlung oder Strafe (CPT) beobachtet einen Charterabschiebungsflug von München nach Kabul. Besuche des CPT werden den Behörden meist angekündigt. Die beteiligten deutschen Dienststellen sind zur Kooperation verpflichtet, können sich aber auf die Beobachtermission einstellen.

Die beobachten dramatische Szenen am Münchner Flughafen. Einer der Afghanen, die abgeschoben werden sollten, leistet Widerstand bei der Platzierung im Flugzeug. Sechs Polizisten brechen diesen. Dem Zwangspassagier wird ein Beißschutz in den Mund eingeführt.

Im CPT-Bericht stehen Sätze wie: „Zu diesem Zeitpunkt wurde der Rückzuführende von drei hinter seinem Sitz positionierten Begleitbeamten festgehalten und auf jeder Seite saß ein weiterer Beamter. Ein sechster Beamter kniete auf den Knien und Oberschenkeln des Rückzuführenden, um ihn mit seinem Gewicht in seinem Sitz zu halten. Nach etwa 15 Minuten griff der sechste Begleitbeamte mit seiner linken Hand die Genitalien des Rückzuführenden und drückte mehrmals länger zu, um den Rückzuführenden dazu zu bringen, sich zu beruhigen.“

Die Anti-Folter-Kommission beobachtete, wie der Afghane Atemschwierigkeiten bekam, weil einer der Beamten des „Backup-Teams“ den Arm um seinen Hals legte und zudrückte.

Das Bundesjustizministerium leugnete im Mai 2019, dass es atembehindernde Techniken und Griffe in die Genitalien gegeben. Als Kronzeuge wird ein Beobachter der Europäischen Grenzschutzagentur Frontex angeführt. Das ist polizeilicher Korpsgeist in europäischem Maßstab. Wir kennen ihn aus der Vergangenheit, wann immer es um die Angemessenheit von Methoden geht, mit denen Widerstand gebrochen wird. Geleugnet wird, solange es möglich ist. Wo keine Tat, da keine Täter.

Wegen großer Schmerzen liegend abgeschoben

Die Nachdenklichkeit nach den beiden Todesfällen 1994 und 1999 scheint einer neuen Härte bei der Durchführung von Abschiebungen gewichen zu sein. In diesem Klima werden dann auch mal aus symbolischen Gründen Schwerkranke per Ambulanzflieger abgeschoben, wie in Hamburg im März dieses Jahres. Oder es werden medizinische Atteste missachtet, um Abschiebungen möglich zu machen. Wer den Flug überlebt, war fit für ihn.

Auf den heute üblichen Charterflügen gibt es meist keine unabhängigen Beobachter gibt. Was das CPT da sah, wirft wohl nur ein kleines Schlaglicht auf ein größeres Problem. Wenn unter den Augen externer Beobachter so zugegriffen wird, dann darf man sich keine Illusionen machen.

Der Bundespolizeichef Dieter Romann meinte erst vor Kurzem, zur Durchsetzung von Abschiebungen die Flugkapitäne in die Pflicht nehmen zu müssen. Die sind ihm zu zimperlich, wenn sie aus Gründen der Luftsicherheit die Mitnahme von Abzuschiebenden manchmal ablehnen. Wer die international anerkannten Regelungen zur sogenannten Bordgewalt der Flugkapitäne in Frage stellt, der sucht die Provokation.

Es schließt sich hier der Kreis zum Fall Ageeb. Dessen Tod führte dazu, dass das BMI 1999 klarstellen musste, dass es die Flugkapitäne sind, die nach Schließen der Türen die Kommandogewalt an Bord haben. Jetzt wird daran wieder gerüttelt.

Im Kabul-Flieger saß auch ein Afghane, der sich wenige Tage zuvor bei einem Sprung aus dem Fenster einen Bruch des Lendenwirbels zugezogen hatte. Ohne dass die notwendige Nachsorge durchgeführt gewesen wäre, wurde er drei Tage nach seiner Entlassung aus dem Krankenhaus für reisetauglich befunden und –wegen großer Schmerzen – liegend abgeschoben.

Ministerium will keine Kennzeichnung

Das CPT kritisiert Ärzte, die möglicherweise unter Verstoß gegen ärztliche Grundsätze einerseits über die Reisetauglichkeit entscheiden und dann auch noch als Begleitärzte mitfliegen. Das Rollenverständnis dieser „Fachärzte für Abschiebung“ ist ein jahrzehntealtes Ärgernis. Beim Kabul-Flug war jedenfalls ein „Anstaltsarzt“ dabei, das CPT fordert den Einsatz unabhängiger Fachkräfte.

Genau die allerdings versuchen sich die Verfachter einer verschärfter Abschiebungspolitik vom Hals zu halten – durch Gesetze, wie dem demnächst im Bundestag beratenen aktuellen Geordnete-Rückkehr-Gesetz. Es soll die Beachtung ärztlicher Atteste von unabhängigen Ärzten immer weiter ausschließen und stellt überhöhte Anforderungen, die zu erfüllen kein Facharzt ausreichend Zeit hat.

Auch eine sichtbare Kennzeichnung der Begleitbeamten, die das CPT fordert, werde „derzeit nicht für erforderlich gehalten“, so das Justizministerium.

Die Polizei setzt darauf, nicht beobachtet zu werden

Abschiebungsflüge werden in erheblichem Ausmaß von Personal begleitet, dass für diese Aufgabe nicht ausgebildet ist. Auf dem beobachteten Kabul-Flug waren ein Drittel der Begleiter Angehörige von polizeilichen Beweissicherungs- und Festnahmeeinheiten(BFE). Sie hatten die Ausbildung zum „Personenbegleiter Luft“ nicht absolviert.

BMI und Bundespolizeiführung scheinen sich darauf zu verlassen, dass die kommenden Abschiebungsflüge wieder unbeobachtet stattfinden.

Ich habe die Menschen, die für den Tod Aamir Ageebs unmittelbar verantwortlich waren, während des Strafprozesses im Gerichtssaal erlebt. Man darf sie sich nicht vorstellen als per se zu Gewalttätigkeiten neigende Männer, denen alles zuzutrauen war. Nein, sie waren erschrocken über das, was sie angerichtet hatten. Sie hatten es nicht gewollt. Sie standen am Ende einer Befehlskette, in der das harte Durchgreifen erwartet, aber nicht samt seinen Grenzen näher geregelt wurde.

Man sollte sich auch die Beamten auf dem vom CPT beobachteten Flug nicht als brutale Gewalttäter vorstellen, wird sich aber dennoch fragen, in welchem Umfeld abseits der soldatischen Einzelkämpferausbildung der schmerzhafte Griff an die Genitalien heute gelehrt wird. Die Begleitbeamten standen unter dem Druck der politischen Erwartung, eine Abschiebung durchzusetzen – um fast jeden Preis.

Das allerdings rechtfertigt nichts in einem Staat, in dem es auch heute keines großen Mutes bedarf, sich solchen Zumutungen zu verweigern. Es gibt Polizisten, die Abschiebungen abgebrochen aus guten Gründen abgebrochen haben. Abmahnungen sind nicht bekannt geworden.

Es gilt, bei Abschiebungen die Menschenrechte zu beachten, die Anwendung exzessiver Gewalt zu verhindern und zugleich der Fürsorgepflicht für die eingesetzten Beamten nachzukommen, indem nicht erneut ein Konstrukt der organisierten Verantwortungslosigkeit zugelassen wird.

Seit fast 20 Jahren hängt in meinem Büro das Plakat einer Mahnwache zur Prozesseröffnung im Verfahren um den Tod Aamir Ageebs, zu der neben PRO ASYL weitere Organisationen aufriefen. darauf steht ein Zitat des Philosophen Günter Anders:

„Als Arbeitende sind die Zeitgenossen auf Mittun als solches gedrillt. Und jene Gewissenhaftigkeit, die sie sich anstelle ihres Gewissens angeschafft haben(sich anzuschaffen, von der Epoche gezwungen wurden), kommt einem Gelöbnis gleich; dem Gelöbnis, das Ergebnis der Tätigkeit, an der sie teilnehmen, nicht vor sich zu sehen; wenn sie nicht umhin können, es vor sich zu sehen, es nicht aufzufassen; wenn sie nicht umhin können, es aufzufassen, es nicht aufzubewahren, es zu vergessen – kurz: dem Gelöbnis, nicht zu wissen, was sie tun.“

Der Autor hat den Prozess gegen die Bundesgrenzschutzbeamten wegen des Todes von Aamir Ageeb seinerzeit beobachtet.

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