Digitalisierung in China: Ein Code für alle Fälle

Ein Taxi bestellen, den Aufzug rufen, Strafzettel bezahlen: Wer in China lebt, kommt an der App WeChat nicht vorbei. Da wird selbst Facebook neidisch.

Eine Hand hält ein Smartphone, auf dem ein QR-Code zu sehen ist

Eine Frau bezahlt ihre U-Bahnfahrt in Shenzhen mit der App WeChat Foto: Blanches/DPA

PEKING/BERLIN taz | Die Kassiererin blickt genervt auf. „Kein Portemonnaie dabei?“, fragt sie. Verlegen wühle ich in meiner Jackentasche herum, fummele an meinem Smartphone. Apple-Pay funktioniert bei dieser Edeka-Filiale noch nicht. Das weiß ich. Aber gibt es nicht irgendeine andere App, mit der ich meinen Einkauf bezahlen kann? WhatsApp vielleicht? Die Kassiererin schaut mich verdutzt an.

Es ist bereits das zweite Mal, dass ich mit vollen Tüten vor einer Kasse in einem deutschen Supermarkt stehe und nicht bezahlen kann, weil ich mein Portemonnaie vergessen habe. Sieben Jahre habe ich in China gelebt. Seit einem Monat bin ich wieder in Berlin. Schwer gefallen ist mir die Rückkehr nicht. Die Luft in Berlin ist sehr viel besser, ich kann wieder unbedenklich das Wasser aus dem Hahn trinken und muss es nicht vorher abkochen und zigfach filtern. Die Straßen in Berlin sind nicht ganz so voll wie in Peking.

Andererseits vermisse ich die Maultauschen – „Drei Sorten“ mit Krabbe, Schwein und Shiitake-Pilzen – von meinem Lieblingsimbiss um die Ecke. Und auch an etwas anderes muss ich mich wieder gewöhnen: das Portemonnaie einstecken. Denn in China brauchte ich für den Alltag nur mein Smartphone. Und genau genommen auch nur eine App: WeChat.

Es ist noch nicht lange her, da haben viele auch in China noch über diese App gelästert. Sie sei ja bloß ein Abklatsch von WhatsApp, das in der Volksrepublik nur einen kurzen Auftritt hatte, dann von der Zensurbehörde allerdings blockiert wurde, weil es eben keine chinesische App war.

Optisch gleichen sich die beiden Apps: Auf beiden Logos sind weiße Sprechblasen zu sehen. Und so wie WhatsApp hatte auch WeChat als Kurznachrichtendienst begonnen. Doch WeChat, das auf Chinesisch Weixin heißt, ist längst mehr. Sehr viel mehr. Eine Art Super-App.

Mit dem Barcode die Äpfel bezahlen

Außer Nachrichten und Emojis verschicken, Online-Telefonie mit und ohne Videobild, lassen sich über WeChat auch Tickets im Hochgeschwindigkeitszug buchen, Flüge, Fahrtdienste, Kinokarten.

Das funktioniert so: Der Nutzer erhält einen eigenen Barcode. Mit der Kamera des Smartphones kann jeder andere WeChat-Nutzer diesen Barcode innerhalb weniger Sekunden lesen. Daraus ergeben sich viele weitere Funktionen: Der Barcode ersetzt die Visitenkarte, findet sich auf jeder Firmenwebseite.

Vor allem aber lässt sich an jeder Ecke damit bezahlen. Denn die App ist mit dem Bankkonto verbunden. Es genügt, den Barcode des Gegenübers zu scannen und die Summe wird abgebucht.

Mit WeChat muss selbst die Obsthändlerin bloß ihren Barcode zeigen, und schon hat der Kunde seine Äpfel bezahlt

In einem Land wie China ist das besonders von Vorteil. Gerade auf dem Land haben die meisten Bauern und Händler keine teuren Kreditkartenlesegeräte für Visa, Mastercard oder Union Pay, dem chinesischen Pendant. Das Bargeld wiederum ist oft sehr dreckig, die Scheine angerissen, weil sie durch so viele Hände gingen.

Mit WeChat muss selbst die Obsthändlerin an der Ecke bloß ihren Barcode zeigen, und schon hat der Kunde seine Äpfel bezahlt. Ein Smartphone hat in China inzwischen jeder.

Auch Bettler nutzen die App

Selbst die Bettlerin. In meiner Nachbarschaft saß immer an der gleichen Stelle eine behinderte Frau mit ihrem ebenfalls behinderten Sohn und bettelte um Geld. Ich hatte es mir zur Angewohnheit gemacht, alles Kleingeld, was sich bei mir ansammelte, in ihren Korb zu werfen. Doch dann wollte sie die vielen Münzen und Scheine nicht mehr. Sie zeigte stattdessen auf einen Zettel vor ihr mit einem Barcode drauf. Sie bat mich, ihr das Geld künftig auf ihr Konto zu überweisen. Natürlich mittels WeChat.

Andere Netzwerke, die im Rest der Welt verbreitet sind, spielen in China keine Rolle. Facebook? Ist vielen zwar ein Begriff, in China aber gesperrt. Twitter? Ebenso. Und auch YouTube, Snapchat, Instagram sowie die meisten bekannten Google-Dienste sind nur schwer oder gar nicht abrufbar. WhatsApp funktioniert sporadisch – meistens aber nicht. Die übergroße Mehrheit stört das wenig. Schließlich haben sie ihre eigenen Dienste.

Mehr als eine Milliarde Chinesinnen und Chinesen nutzen WeChat inzwischen. Wegen der vielen Funktionen. Oft sind sie spielerischer, bedienerfreundlicher und meist auch schlicht besser in der Anwendung.

War China nicht eben noch ein Entwicklungsland? Jetzt ist es an den Europäern vorbei ins digitale Zeitalter gesprungen. Was ist passiert?

Die Great Firewall

Rückblick auf das Jahr 2009. Uigurische Aktivisten begehren gegen die Autoritäten auf. Uiguren sind eine muslimische Minderheit im Nordwesten der Volksrepublik. Seit Jahrzehnten fühlen sie sich unterdrückt. Und das werden sie auch. Ihren Protest haben sie über Facebook organisiert. Weil Facebook und Twitter sich zu der Zeit auf mehrfache Aufforderung der chinesischen Behörden weigerten, die Einträge zu löschen, ließ das chinesische Sicherheitsministerium kurzerhand die US-Dienste sperren. Die Great Firewall war geboren – Chinas staatliche Internetzensur.

Ganz abgeschnitten ist das Land damit aber nicht vom Rest der Netzwelt. Facebook und Co. sind mittels VPN-Tunnel erreichbar, wenn auch umständlich. Offiziell ist das verboten, verfolgt werden Vergehen aber bislang nicht.

Die kommunistische Führung hatte die Great Firewall in erster Linie aus politischen Gründen errichtet. Daraus ergab sich jedoch ein ökonomischer Nebeneffekt: Die chinesischen Gegenstücke zu den US-Größen – bis dahin auch in China nur von wenigen genutzt – konnten sich im Land rasch ausbreiten. Sie heißen Baidu, Alibaba, Tencent – und sie gehören nach Facebook, Google und Amazon heute zu den mächtigsten IT-Playern der Welt.

Doch die Zensur ist nicht der alleinige Grund für den Erfolg der chinesischen Pendants zu den international bekannten Diensten. Denn Tencent macht mit WeChat einiges anders als etwas Facebook mit WhatsApp.

Er ist 50 Jahre alt, trägt gerne Jeans und Kapuzenpullis und ist Erfinder von WeChat. Zhang Xiaolong ist eine Legende: Zhang, der sich im internationalen Kontext mit Vornamen auch Allen nennt, macht sich in der Öffentlichkeit eher rar. Der gelernte Programmierer gilt als schüchtern, introvertiert, und meidet große Veranstaltungen, ähnlich wie sein Boss, Tencent-Chef Pony Ma. Wenn sich Zhang einmal blicken lässt, dann hat er meist Wegweisendes zu verkünden.

Eine App als eigene Plattform

So auch vor anderthalb Jahren in der Wirtschaftsmetropole Guangzhou, wo WeChat seine Zentrale hat. 4.000 Softwareentwickler aus dem ganzen Land hatte er zu einer Entwicklerkonferenz in ein Kongresszentrum geladen.

Die Entwickler waren aber nicht gekommen, um an WeChat zu arbeiten. Es handelte sich um Mitarbeiter unabhängiger Firmen, die Mini-Programme machen, die innerhalb von WeChat laufen. Denn auch das ist eine Stärke von WeChat. Der Dienst ist nicht wie WhatsApp bloß ein Kurzmitteilungsdienst mit Telefonfunktion und ein paar weiteren Gadgets.

Wie Apple beim iPhone externen Programmierern eine Plattform geboten hat, damit sie sich bei der Entwicklung neuer Apps austoben können, geht Tencent bei WeChat nun ähnlich vor. Im Unterschied zu anderen Apps müssen diese Mini-Programme allerdings nicht extra heruntergeladen und installiert werden – sie sind innerhalb von WeChat sofort einsatzbereit. Das Programm hat sich binnen weniger Jahre auf diese Weise zu einer eigenen Plattform entwickelt.

Hochhäuser in einer Stadt in China

Das Hauptquartier von Tencent in Shenzhen Foto: Bobby Yip/Reuters

Ohne kann man kaum mehr ein Taxi rufen in Peking. Vor einiger Zeit stehe ich an einer lauten Ausfallstraße irgendwo im Süden der Stadt und will weg. Noch vor kurzem wäre das kein Problem gewesen. Ich musste bloß meine Hand ausstrecken. Schon hätte ein Taxi gehalten. Doch das geht jetzt nicht mehr. Denn das funktioniert fast nur noch mit WeChat. Ein paar Mal tippen, dann über die Mikrofonfunktion sagen, wohin man möchte, schon gibt es eine Benachrichtigung, dass ein Taxifahrer mich gleich abholen wird.

Der Vorteil für den Taxifahrer: Er muss nicht mehr durch die verstopften Straßen gurken, bis er einen Kunden am Straßenrand findet, sondern kann den Kunden direkt abholen. Der Nachteil für Touristen aus dem Ausland: Ohne WeChat findet er kein Taxi mehr. Mir blieb also gar nichts übrig, mich mit meinem Account ebenfalls für diese Funktion anzumelden.

Über 600.000 Mini-Programme

Eine Plattform – das wollen heute alle sein. Auf Branchentreffen wie dem Web Summit in Lissabon oder auf der republica in Berlin ist das derzeit ein Modewort. Auch Jack Ma, der Gründer des E-Commerce-Giganten Alibaba, eine Art chinesisches Amazon, bezeichnet seinen Dienst als Plattform. Ein Unternehmen bietet den Rahmen an, in dem andere Geschäfte machen. Die machen die eigentliche Arbeit und sind kreativ. Aber die Plattform verdient mit.

Genau darin besteht die Leistung von WeChat: Eine App zur Verfügung zu stellen, die ohnehin jeder hat, und darauf Tausende weitere Anwendungen zu satteln, sodass sie zu einer Alles-App wird.

Über 600.000 so genannte Mini-Programme lassen sich in das Ökosystem WeChat integrieren. Es ist nicht notwendig, immer wieder eine App herunterzuladen oder sich den Namen der Marke zu merken. Es reicht völlig aus, dem Barcode zu folgen, der auf Firmenwebsiten eingebaut, auf Broschüren, Visitenkarten und in Chat-Gruppen zu finden ist. Die meisten Mini-Programme kommen von Drittanbietern. Viele davon sind Spiele.

Allen Zhang lädt inzwischen regelmäßig zur Entwicklerkonferenz nach Guangzhou ein – und tritt dann auch an die Öffentlichkeit. Er wolle nicht zuletzt auch selbst erfahren, „welche neuen Trends die Programmierer aufspüren.“ Doch Zhang will mehr. Geht es nach ihm soll WeChat so ziemlich alle Internetangebote ersetzen, die der chinesische Bürger im Alltag benötigt.

In China finden das alle praktisch. Bei einer Recherche traf ich die fünfjährige Yu, die über ein Kuscheltier kommuniziert, in dem ein kleiner Computerchip eingebaut ist. So kann sie mit ihren Eltern sprechen.Von Yu bis zur Bettlerin – alle lieben WeChat.

taz am wochenende

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.

Ich gehöre eigentlich zu den Skeptikern neuer Technologien – vor allem in einem Land wie China, das seine Bewohner überwacht. Doch als ich an einem lauen Sommerabend in Peking mit Freunden gemütlich in einem Restaurant saß und bezahlen wollte, winkte meine Bekannte neben mir ab. Sie habe bereits mit WeChat bezahlt. Ich wollte ihr meinen Anteil geben. Sie zeigte bloß auf die App – überweise es doch. Da merkte ich: Ich muss diese Funktion auch dringend aktivieren.

Daten sind der Rohstoff unserer Zeit

Auf den Smartphones der westlichen Länder herrscht zumindest ein Minimum an Konkurrenz. Bezahlt werden soll mit Paypal – oder Sparkassen-App. Für Nachrichten ist WhatsApp zuständig. Das Taxi gibt es über MyTaxi. Fürs Videophon bevorzugen viele immer noch Skype. Urlaubserlebnisse teilen sie auf Facebook. News eher auf Twitter. In China übernimmt all das WeChat. Es hat alle Nischen des Ökosystems besetzt.

Daten sind der Rohstoff unserer Zeit. Die Vernetzung von Daten potenziert ihre Macht. Und Tencent weiß mit WeChat alles über seine Nutzer. Was sie kaufen, welches Essen sie in Restaurants bevorzugen, wohin sie gehen, worüber sie sich unterhalten, wen sie lieben und wen sie hassen.

Diese Konstellation ist nicht nur ein gewaltiger Pluspunkt für die Konsumindustrie, die einen hemmungslos mit Werbung für Dinge und Dienstleistungen bombardieren, die den jeweiligen Vorlieben entsprechen, sondern auch bei der Entwicklung von Anwendungen für künstliche Intelligenz. Die selbstlernenden Programme der Zukunft wie etwa beim autonomen Fahren, brauchen Anschauungsmaterial. Und niemand weiß so viel über die Menschen wie Tencent.

Als Nächstes soll die Integration von WeChat ins Berufsleben folgen. Nachdem sich die Leute im Privaten daran gewöhnt haben, nutzen sie die App auch im Job eifrig. Sie teilen Vertragsentwürfe, machen Termine aus und schicken Fotos von Problemen am Fließband an die Ingenieure. Tencent geht darauf ein.

Arbeitnehmer können bereits per WeChat Urlaubstage anmelden. Das Programm weiß auch, wer in welchem Stockwerk eines Bürogebäudes arbeitet – und das eröffnet den Zugang zu interessanten neuen Anwendungen.

Das eigene Hauptquartier als Versuchslabor

Huang Xiaoding ist der Herr über 82 Fahrstühle. Er hat mich eingeladen, das neue Tencent-Hauptquartier in der Zwölfmillionenmetropole Shenzhen zu besuchen. Stolz zeigt er mir die Dachkonstruktion aus Stahl und Glas, die sich über mir wie eine gigantische Kathedrale erhebt; rotes und blaues Licht von den Riesenbildschirmen darunter scheinen auf sein Gesicht. Huang hält seine Karte an das Lesegerät neben dem Aufzug – und der weiß daraufhin genau, in welches Stockwerk er fahren muss. „Das geht demnächst auch mit WeChat“, erklärt mir der Aufzug-Manager. „Dann wird die Karte überflüssig.“

Es ist nur einer von vielen tausend Geschäftsbereichen, mit dem sich Tencent beschäftigt: Der Verzahnung der Aufzugstechnik mit WeChat. Und das neue Hauptquartier von Tencent ist selbst Versuchslabor für diese neue Technik.

Vor knapp einem Jahr hat Tencent dieses Doppelhochhaus im Hightech-Viertel von Shenzhen bezogen. Tencent Seafront Towers heißen die zwei Türme, der eine hat 50 Stockwerke, der andere 39. Beide sind schräg einander zugeneigt – das soll die Windlast mindern. In der Region wüten in den Sommermonaten regelmäßig Taifune. Die beiden Türme sind mit drei gläsernen Brücken verbunden. Die Mitarbeiter sollen sich über den Weg laufen, vernetzen und Ideen austauschen können. Im Inneren des Gebäudes herrscht denn auch eher Campus- als Büro-Atmosphäre. „Ein architektonisches Meisterwerk“, sagt Huang. „Das ganze Land redet über das Gebäude.“

Bei einem Verkehrsdelikt reicht es nun, wenn der Polizist den Code des Autofahrers scannt, schon hat er seine Daten

Doch auch die Verzahnung von WeChat mit dem Arbeitsleben ist Chefprogrammierer und WeChat-Gründer Zhang nicht genug. Ebenfalls in Shenzhen, aber auch in einer Reihe anderer südchinesische Städte kooperiert Tencent mit den örtlichen Behörden. Sie probieren in mehreren Pilotprojekten eine völlig neue Form des E-Government aus.

Auch Polizisten scannen den Barcode

In der Shenzhen ist das bereits Realität. So sind Ausweis und Sozialversicherungskarte in dem personalisierten WeChat-Barcode gespeichert, ebenso Führer- und Fahrzeugschein. Bei einer Verkehrskontrolle reicht es nun, wenn der Polizist mit seinem Smartphone über den Code des Autofahrers scannt, schon hat er seine Daten beisammen. Auch das Bußgeld wird sofort vom Konto des Verkehrssünders abgebucht.

Nicht mehr nur Bargeld soll obsolet werden, sondern alles, was derzeit bei den meisten noch im Portemonnaie oder in der Brieftasche steckt: Personalausweis, Führerschein, Fahrzeugpapiere? Das Smartphone in der Hosentasche reicht.

Geht es nach Tencent, ist E-Government in China demnächst also sehr viel mehr, als sich bloß beim Einwohnermeldeamt online registrieren zu können, wie das derzeit in Deutschland angestrebt wird. Auch Ämter, in die der Bürger noch persönlich erscheinen muss, sollen überflüssig werden. Und Chinas Regierung hat Tencent den Zuschlag fürs E-Government gegeben.

Dabei ist Tencent ein Privatunternehmen. Im staatskapitalistischen China mit seiner autoritären Führung ist es aber gar nicht möglich, mit der Regierung nicht zu kooperieren – schon gar nicht ein Unternehmen wie Tencent, das im Börsenwert zwischenzeitlich sogar Facebook überflügelt hatte. Wie alle IT-Konzerne, die in China tätig sind, gibt auch die Firmenleitung von Tencent unverhohlen zu: Die Sicherheitsbehörden haben jederzeit Zugriff auf die Daten. In China gilt: Wer eine Chat-Gruppe einrichtet, ist für deren Inhalt verantwortlich. Zahlreiche Nutzer sitzen in China in Haft, wegen – aus Sicht der kommunistischen Führung – politisch nicht korrekter Einträge, die der Nutzer selbst verfasste oder es zuließ, dass andere sie in der Gruppe posteten.

Datenschutz? In China kein Thema

Vor eineinhalb Jahren hatte mir jemand ein Bild auf WeChat geschickt. Darauf ein chinesischer Künstler, der ein T-Shirt mit einem gelben Regenschirm anhat. Dieser Regenschirm war das Symbol der Demokratie-Proteste 2014 in Hongkong. Hunderttausende gingen in der einstigen britischen Kronkolonie auf die Straße. In Hongkong ist das noch erlaubt. Denn anders als in der Volksrepublik gibt es in der heutigen chinesischen Sonderverwaltungszone noch so etwas wie Meinungsfreiheit. In China aber werden solche Proteste staatlich verfolgt.

Bei dem Bild, das mir jemand auf den Gruppenchat zugeschickt hatte, hatte ich gar nicht so sehr Angst um mich selbst. Als ausländischer Journalist hatte ich schlimmstenfalls die Ausweisung zu befürchten. Doch die anderen Mitglieder kann ein solches Bild in Gefahr bringen. Kurze Zeit später war das Bild wieder gelöscht. Keine Ahnung, ob der Verfasser es gelöscht hatte oder die Zensur.

Datenschutz? Das ist in China kein Thema, vielen nicht mal ein Begriff. Und einem Land, in dem die Regierung in den kommenden Jahren landesweit ein Social-Scoring-System einführen will, das das Verhalten jedes einzelnen Bürgers sowohl im Netz als auch im realen Leben genau unter Beobachtung stellen und entsprechend auswerten soll, kann von Datenschutzbewusstsein nicht die Rede sein – zumal die Abhängigkeit von diesen Diensten groß ist.

Ob der Staat, die Konsumindustrie oder jeder erdenkliche Dienstleister – alle Spuren, jegliches Verhalten, sämtliche Daten werden gespeichert. Das ist sehr praktisch, wenn die entsprechenden Angebote auf dem Smartphone erscheinen, auch wenn der Nutzer sie gar nicht mal aktiv abgefragt hat. Wer am modernen Leben Chinas teilhaben will, kommt um WeChat gar nicht mehr herum.

Google, Amazon und Facebook beneiden die chinesische Konkurrenz

Mit der Einführung des Social-Scoring-Systems dürfte der Staat noch besser über seine Bürger Bescheid wissen. Für die Betreiber, im Falle Chinas auch der Staat, ist es ein Leichtes, herauszufinden, wer Initiator oder Meinungsführer bei den Einträgen ist. Das lässt sich auch entsprechend manipulieren.

China setzt die Silicon-Valley-Giganten unter Druck

Wie weit sind die Deutschen von „chinesischen Verhältnissen“ entfernt? Datenschutz hat in Deutschland einen hohen Stellenwert. Noch. Das WeChat-Symbol findet sich in Berlin zwar auch an Kassen des Kadewe oder bei dm oder Rossmann. In diesen Läden lässt sich also mit der App bezahlen. Doch diese Dienstleistung richtet sich ausschließlich an chinesische Touristen, die als spendierfreudig gelten. An einer weltweiten Expansion ist Tencent mit seiner App nicht interessiert. Die chinesische Kundschaft reicht dem Unternehmen aus.

Und doch setzen die Verhältnisse in China auch die großen IT-Unternehmen im Silicon Valley unter Druck. Google, Amazon und Facebook beneiden die chinesische Konkurrenz um die Milliarden Daten, die Tencent und Alibaba von ihren Nutzern sammeln können. Auch Google und Facebook sammeln Daten – und nutzen sie zuweilen ungefragt. Doch dafür müssen sie sich rechtfertigen und Besserung geloben. Neue Datenschutzbestimmungen maßregeln sie. Tencent, Alibaba und die chinesischen Tech-Giganten hingegen machen keinen Hehl aus ihrer Sammelwut. Im Gegenteil: Sie werben damit und versprechen den Nutzern noch „passgenaueren Service“.

In Europa macht sich die IT-Lobby angesichts der Möglichkeiten, die die Unternehmen in Fernost haben, stark für eine Lockerung der Datenschutzbestimmungen. Ob die Europäer künftig technisch überhaupt noch mit dem autoritären Staatskapitalismus mithalten können, ist unklar.

Auch in Europa muss man in einigen Apps die Kreditkarte, den Führerschein und den Personalausweis hinterlegen. Der Unterschied zu China: Die Daten liegen bei unterschiedlichen Anbietern. Bei DriveNow, der Deutschen Bahn oder Emmy. Der Nutzer profitiert von der Konkurrenz zwischen unterschiedlichen Anbietern und dem Datenschutz der Demokratien.

Kurzlebige IT-Trends

Schon heute können einzelne Marktführer wie Google auf ungeheure Daten zugreifen: wohin wir gehen, was wir suchen, was wir uns anschauen, wann wir aufstehen. Sollte sich googlepay im Westen durchsetzen, könnte auch Google potentiell viele der Möglichkeiten haben, die WeChat heute hat.

Doch längst ist auch die Dominanz von WeChat in China schon wieder bedroht. Denn auch das ist das Wesen von IT-Trends: Sie sind kurzlebig. Im Westen wird Facebook unter Teenagern schon als Medium der Eltern verschmäht.

Und auch die junge Generation in China hat neue Favoriten. Eine davon ist die Kurzvideo-App „Douyin“, im Ausland auch als TikTok bekannt. In jeder U-Bahn in Peking trifft man auf Schülerinnen und Schülern, die auf ihr Smartphone starren und Faxen vor der Kamera machen.

Auch beliebt unter jungen Chinesen: Toutiao, ein Newsfeed mit Inhalten speziell für junge Leute. Beides sind Angebote der chinesischen Firma Bytedance, der innerhalb kurzer Zeit zum größten Konkurrenten von Tencent aufgestiegen ist. Bis August hatte Douyin bereits 225 Millionen aktive Nutzer, Toutiao sogar über 250 Millionen, nach Angaben der Forschungsgesellschaft QuestMobile ein Anstieg um mehr als das Vierfache innerhalb eines Jahres. Tencent hat zwar mit der eigenen Kurzvideo-App Weishi reagiert. Der zählte jedoch lediglich rund 50 Millionen aktive Nutzer, also weniger als ein Viertel von Douyin.

Bislang war es so, dass jedes soziales Netzwerk einen Lebenszyklus hat. Das scheint im Reich der Mitte nicht anders zu sein. Aus Sicht eines chinesischen Teenagers ist WeChat steinalt. Und was ist mit dem Angebot der unabhängigen Entwickler, die bei WeChat integriert sind? Und der Staat, der mit E-Government ebenfalls dabei ist? Die würden wohl rasch auf die neuen Angebote aufspringen. Chinesen sind flexibel.

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