Europäische Parteien: Große Hoffnung auf kleine Chance

Die Partei Volt tritt in mehreren Ländern zu den EU-Wahlen an. Bei der niederländischen Abteilung steigt die Vorfreude auf die Wahlpremiere.

Eine Gruppe von Menschen halten ein lila Transparent auf einer Brücke

Volt ist eine kleine, von Crowdfunding getragene Partei Foto: dpa

AMSTERDAM/UTRECHT taz | Vor zwei Jahren hätte ich nicht gedacht, dass ich mal auf der Straße Flugblätter austeilen würde“, sagt Reinier van Lanschot und muss lachen. In der Hand hält er einen Stapel Flugblätter, die er an einem warmen Mittag im April Passanten in der Utrechter Innenstadt überreicht. Er geht auf drei junge Männer zu, die mit Getränkedosen auf dem Bordstein sitzen. „Gibt es etwas, über das ihr euch in Europa Sorgen macht?“ Sie gucken baff.

Reinier van Lanschot, 29 Jahre alt, macht sich Sorgen. Über den wachsenden Nationalismus und weil die meisten Parteien, wie er findet, darauf keine Antwort haben. Sorgen um das Klima, um eine fehlende „humane Migrationspolitik“. Deshalb steht er hier. Deshalb kündigte er im Herbst seinen Job bei einer Supermarktkette, um sich ganz auf Volt konzentrieren zu können. Die Partei, die „Europa neues Leben einbläst“, wie auf dem Flugblatt in seiner Hand zu lesen ist. Seit März ist van Lanschot ihr Spitzenkandidat für die Niederlande.

Wenn die Niederländer am 23. Mai ihre VertreterInnen im neuen EU-Parlament bestimmen, bedeutet das für Volt die Premiere. Gegründet Anfang 2017 von Andrea Venzon (Italien), Damian Boeselager (Deutschland) und Colombe Cahen-Salvador (Frankreich), verabschiedeten sie anderthalb Jahre später in Amsterdam ein gemeinsames Wahlprogramm. Antreten wird die „pan-europäische Partei“ indes nicht überall: wegen unterschiedlicher Auflagen in den Mitgliedstaaten steht Volt in Belgien, Bulgarien, Deutschland, Luxemburg, Schweden, Spanien, Großbritannien und in den Niederlanden auf dem Wahlzettel.

Genau das ist ein Problem, findet ihr Spitzenkandidat: „Die Politik in den Mitgliedstaaten ist noch immer national organisiert. Dabei ist unsere alltägliche Praxis, etwa in Betrieben, schon viel europäischer.“ Diesen Rückstand wollen sie aufholen – durch eine weitreichende politische Integration. Nach einer Umfrage, die Volt in Auftrag gab, befürworten mehr als zwei Drittel der befragten Niederländer ein gemeinsames Vorgehen der EU bei der Begrenzung von CO2-Emissionen und dem Kampf gegen Steuerhinterziehung.

Das „Amsterdam ­Declaration“ genannte Wahlprogramm sieht vor: ein föderales Europa mit gemeinsamen Parteien und Regierungsstrukturen, innerhalb deren das Parlament den Premier wählt und die Bürger den Präsidenten wählen. Eine Banken-, monetäre und wirtschaftliche Union mit eigenem Finanzminister. Mehr Jobs dank Innovation und Bildung und zugleich EU-weite Mindesteinkommen oberhalb der Armutsgrenze. Eine europäische Körperschafts- und CO2-Steuer und eine Migrationspolitik, die „Hunger und Klima“ als Fluchtursachen anerkennt.

Drückt das auf die Stimmung?

Volt ist eine kleine, von Crowdfunding getragene Partei. Bislang gibt es keine offiziellen Umfragen, wie sie bei den Europawahlen abschneiden könnte. Intern wird vermutet, dass die Chancen auf einen Sitz in Deutschland am besten stehen, gefolgt von Luxemburg, Bulgarien und den Niederlanden. Eine knappe Handvoll Abgeordneter, wenn es gut läuft. Im schlechtesten Fall keiner. Drückt das auf die Stimmung?

Reinier van Lanschot, Volt

“Ich sehe uns an einem Punkt, an dem es auf einmal schnell gehen kann“

Reinier van Lanschot verneint: „Die Chancen stehen gut, dass ich nach Brüssel gehe. Ich sehe uns an einem Punkt, an dem es auf einmal ganz schnell gehen kann. Gerade jetzt. Weil viele Menschen nach dem Wahlsieg von Forum voor Democratie sagen, dass man diesen Tendenzen entgegentreten muss.“ Die neue nationalistische Partei hatte im März aus dem Stand die Provinzialwahlen in den Niederlanden gewonnen.

Beflügelt wird van Lanschots Optimismus von der Entwicklung des letzten Jahres. Im Januar 2018 hatte er in Utrecht Interessierte zu einem ersten Treffen aufgerufen. Niemand kam. „Da stand ich mit meiner Idee – alleine“, erinnert er sich. Ein Zeitungsartikel brachte Bewegung in die Sache: Innerhalb von drei Wochen meldeten sich Hunderte Interessierte. Im Juni 2018 wurde dann der niederländische Zweig der Partei gegründet. Inzwischen zählt Volt NL 1.500 Mitglieder in 20 Abteilungen – von Maastricht bis Groningen.

Koordiniert werden sie in diesen Wochen aus einem Büro im Südosten Amsterdams, nahe vom Bahnhof Amstel. An der Fassade hängt die große lilafarbene Parteifahne, 12 bis 14 Menschen organisieren hier die Kampagne. An der Bürowand prangt ein riesiger Wahlkampfkalender, auf dem Boden stehen Kartons mit lila Pullovern und T-Shirts, die am Vortag eingetroffen sind.

Das Hauptquartier im ersten Stock, auch war room genannt, offenbart den noch provisorischen Zustand der Partei. Die Räumlichkeiten stellt die Firma im Erdgeschoss gratis zur Verfügung. Ein noch kleineres Büro in Amsterdam dient als Ausweichort, wenn es hier zu voll wird. „Fröhliches Chaos “, so beschreiben Beteiligte die Atmosphäre in der Zentrale. Das gesamte Kampagnenteam hat Job oder Studium vorübergehend auf Eis gelegt. Für rund 70 Prozent der Mitglieder ist dies ihr erstes politisches Engagement, das Durchschnittsalter beträgt 33 Jahre.

Alles normal, bis zur Europakrise

Bei Volt nennt man sie „Die Generation Jetzt“. Jasper Munnichs, 25, gehört dazu. Informatikstudent aus Utrecht, Listen- Platz 13, Sprecher von Volt NL. An einem Morgen steht er in einem improvisierten Studio, das sich im dritten Stock einer Schule in Amsterdam-West befindet. Der Regisseur formt mit zwei flachen Händen eine Klappe, und Jasper Munnichs sagt: „Wir sind die Generation Jetzt. Aufgewachsen in Frieden und Wohlfahrt. Jedenfalls der größte Teil von uns.“

Der Satz gehört zu einem Wahlspot, den die Partei für die heiße Phase der Kampagne aufnimmt. „Wir sind Europa“, sagt Munnichs weiter, „wählt Volt.nl“. Draußen auf dem Flur erzählt er, wie er einst mit seinen Eltern jedes Jahr in ein anderes europäisches Land in Urlaub fuhr und ihm dieses ungehinderte Reisen ganz normal vorkam.

Doch dann kam die Eurokrise: „Damals wurde mir bewusst, dass die Dinge in die falsche Richtung laufen können. Ich fragte mich: Wenn Griechenland bankrott ist, springt das auf andere Länder über? Und was bleibt dann von Europa bestehen? Das machte mir damals wirklich Angst.“

Jasper Munnichs bezeichnet sich selbst als „progressiv“. Bisher wählte er GroenLinks. Was ihn zu Volt treibt? „Die wachsende Ungleichheit bekümmert mich, die sich verändernde Weltordnung. Die Niederlande allein sind zu klein, und die gefestigten Parteien bieten keine Antwort auf diese Fragen.

Volt-Parteivorsitzender Reinier van Lanschot (Mitte) unterwegs in Gronlingen Foto: dpa

Das treibt viele Menschen zu den Rechtsnationalisten. Sie haben das Gefühl, keine Kontrolle mehr zu haben. Wie können wir also in Europa gemeinsam vorgehen und dabei die Bürger einbeziehen? Denn natürlich müssen wir aufräumen mit der Idee, dass Regierungschefs sich hinter den verschlossenen Türen des Europäischen Rats besprechen.“

Menschen miteinbeziehen

Ein paar Meter weiter, beim Eingang in den Klassenraum mit Studio, hat eine Maskenbildnerin ihren Schminktisch aufgebaut. Soeben hat sie sich eines der ältesten Mitglieder der jungen Partei vorgenommen: Henri van de Werd, ein pensionierter Tropenarzt und Neurologe mit akkurat gestutztem weißen Vollbart, der vor einem Jahr auf Volt aufmerksam wurde. Van de Werd ist 81 Jahr alt. „Ich habe den Krieg noch erlebt“, sagt er, „ich weiß, was es heißt, wenn Völker einander bekämpfen. Das hat mich wohl geprägt.“

Am Revers seines blauen ­Jacketts trägt van de Werd nun den lila Button seiner neuen Partei. Er selbst sah sich „schon immer als Europäer“. Zugleich räumt er ein, wie schwierig der aktuelle Zustand dieses Europas ist. „Es ist eine gewaltige Aufgabe, Europa populärer zu machen. Die Menschen von unten mit einzubeziehen, nicht von oben, seitens der Regierung. Darum versuche ich, die Philosophie von Volt mit zu entwickeln.“ Für einen Listenplatz fühlt sich der Mediziner nicht mehr robust genug. „Doch derzeit widme ich Volt fast meine gesamte Zeit.“

Nilüfer Vogels, Volt

„Die klassische Politik ist viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt“

Während Henri van de Werd sich für seinen Moment vor der Kamera vorbereitet, hat Nilüfer Vogels den Dreh schon hinter sich. „Wir wollen eine sauberere Welt. Wir wollen eine liebere Welt für unsere Kinder. Wir wollen mehr Transparenz“ – so weit ihr Beitrag. Passend zur Agenda der 41-Jährigen, die als Zweite auf der Wahlliste steht. Männer und Frauen wechseln sich dort aus Prinzip ab.

Vor ihrer Kandidatur arbeitete Vogels als Projektmanagerin. Wenn alles läuft wie erhofft, könnte auch sie bald Job und Wohnort wechseln. Zwei Sitze im EU-Parlament, das ist der große Traum, den man bei Volt Nederland hegt.

Die Sache mit der Transparenz liegt Nilüfer Vogels besonders am Herzen. Aus ihrer alten Partei, der liberalen D66, trat sie enttäuscht aus, weil diese, wie sie sagt, Regierungsteilnahme höher ansiedelte als Transparenz. Zudem sieht Vogels Transparenz als Antwort auf den Populismus.

„Die klassische Politik ist viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt“, sagt sie. „Das hat ein Loch verursacht, wodurch der Populismus aufkommen konnte.“ Sie nennt ein Beispiel: „Unsere Regierung hat zu wenig in nachhaltige Energien investiert, weil ihr die Verbindung zu Shell wichtiger war als die eigenen Bürger. Dass Leute dann populistische Parteien wählen, ist die Schuld der Mitte-Parteien.“

Alarmsignale und Krisensymptome

Es ist kein Zufall, dass Nilüfer Vogels die schonungsloseste Bestandsaufnahme der niederländischen Politik liefert. Geboren im Osten der Türkei, war ihre frühe Kindheit von einem schwelende Dauerkonflikt geprägt. Im Rahmen des Familiennachzugs kam sie in die Niederlande.

„Ich war immer sehr stolz darauf, dass mein neues Land anders ist. Ich war stolz auf den Wohlfahrtstaat, auf das rheinländische Modell. Doch jetzt sehen wir, wie die demokratische Gesinnung im Westen abnimmt. Es wird zu wenig in Bildung investiert, in bezahlbaren Wohnraum, in Umweltschutz. So macht man sich die Demokratie kaputt!“

Ein Alarmsignal spürt Vogels in letzter Zeit immer deutlicher: „Wenn gemäßigte Menschen nicht mehr gemäßigte Parteien wählen.“ Anders als ihre jüngeren Kollegen hat Nilüfer Vogels die Krisensymptome schon früher wahrgenommen. 2005 zum Beispiel, als sich die Wähler in ihrer neuen Heimat, ebenso wie in Frankreich, in einem Referendum gegen das europäische Grundgesetz entschieden.

Ausgerechnet von den angeblich europhilen Niederländern hätte man das nie erwartet. Ihr „Nee“ war wie der sprichwörtliche Donner am blauen Himmel einer EU im scheinbar unbegrenzten Ausbreitungsmodus. Nilüfer Vogels erinnert sich an diese Zeit so: „Zum ersten Mal verstand ich damals, wie wichtig Emotionen in der Politik sind und wie schwer die Vernunft es dagegen haben kann. Und dass es Politiker gibt, die genau das ausnutzen.“

Welche Signalwirkung damals von den Niederlanden ausging, die sich einst selbstironisch als „bravster Junge in der europäischen Klasse“ bezeichnet haben, zeigte sich erst in den folgenden Jahren. Wenn es an Volt liegt, wird von den Niederlanden aus am 23. Mai auch die Gegenbewegung eingeleitet.

Nilüfer Vogels empfiehlt sich ins Hauptquartier, wo es noch viel zu tun gibt. Manche dort erwägen nach der Wahl in den Niederlanden, die schon am 23. Mai stattfindet, die KollegInnen der anderen europäischen Länder in den letzten Tagen ihres Wahlkampfs zu unterstützen. Belgien, Deutschland, vielleicht sogar Bulgarien. Wie sich das gehört, als paneuropäische Partei.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.