Ordnung nicht ausgeschlossen

Indisch geprägt, aber keinesfalls folkloristisch: Im Kunsthaus zeigt Goutam Ghosh beeindruckend ambivalente Bilder zwischen meditativer Naturversenkung, Wissenschaft und Surrealismus

Inspiriert von meditativen Wolkenstudien indischer Mönche: „Tethys“ Foto: Vegard Kleven/Courtesy of the artist and Standard, Oslo

Von Hajo Schiff

Die globale Gegenwartskunst versucht ohne ethnische und nationale Zuordnungen auszukommen. Doch sind die Biografie und die Stipendienorte, die Herkunft und die Ausbildungsstätten stets wichtige Kriterien zur Beurteilung der Arbeiten. Denn ob bewusst oder unbewusst, immer fließen die kulturellen Rahmenbedingungen in die Kunst mit ein.

Zwar wird jetzt im Kunsthaus Hamburg die erste institutionelle Einzelausstellung von Goutam Ghosh in Europa nicht ausdrücklich als Kunst aus Indien beworben, doch sie ist – wie Catherine David, Kuratorin im Centre Georges Pompidou in Paris und ehemalige Documenta-Leitern im Einverständnis mit dem durchaus auf Differenz bedachten Künstler bemerkte – sehr indisch geprägt. Aber in keinster Weise folkloristisch. Und bei den zwei indischen Elefanten, die klar zu entdecken sind, handelt es sich nur um die durchschimmernden Stempel mit dem Markenlogo des Leinenherstellers.

Die meist rahmenlos an die Wand gebrachten, dünnen und oft mit Papier kaschierten Leinwandbilder des 1979 in Nabadwip in Bengalen (Nordostindien) geborenen Künstlers atmen nicht den Geist des farbsatten tropischen oder städtisch bunten Asiens, sie vibrieren eher im Licht der nördlichen Trockengebiete.

Das Gefühl eher karger Landschaften entsteht nicht nur durch die verwendeten Farben, sie selbst sind Teil davon. Denn der Künstler macht seine Malmittel weitgehend selbst – auch mit gefundenen Erdfarben. Und so vermittelt sich eine ruhige, helle Stimmung von Halbwüsten, in denen Reptilien in der Sonne dösen. Mit ihrer Ambivalenz zwischen erdgebundenen Wesen und magischen Boten sind die „Reptiles“ auch die Titelgeber dieser Ausstellung.

Diese Bilder sprechen von der Natur, aber sie zeigen sie nicht. In unbestimmt gestischer, manchmal auch fast kalligrafischer Malerei in Kreide und Wasserfarben finden sich ab­strakte, ja amorphe Skripturen nicht unmittelbar nachvollziehbarer Momente. Ein möglicher Vergleich in der europäischen Kunst bietet sich mit dem ebenfalls immer von der Natur beeinflussten Per Kirkeby an, manchmal auch mit den Zeichenbildern von Cy Twombly. Aber auch die Fleckenstudien und Wasserwirbel Leonardo da Vincis sind Goutam Ghosh bekannt – er hat auch in Oslo studiert.

Ein von grünen, wolkenartigen, figural lesbaren Gebilden dominiertes Bild heißt „Tethys“. Das war die griechische Göttin der Quellen und Flüsse, aber auch der Wolken. Ghosh weiß dazu zu berichten, dass es in seiner Heimat ein Kloster gibt, in dem die Mönche seit vielen Jahrhunderten meditative Wolkenstudien betreiben, eine Malerei im Sinne tantrischer Lehren, die auch ihn selbst beeinflusst haben.

Aber es geht ihm nicht nur um eine meditative Versenkung in die Natur, Ghosh hat aus seinem Geologiestudium auch eine Begeisterung für das Erfassen und Messen mitgebracht. Unter den offen interpretierbaren Formgebilden sind Strukturlinien, Raster, Achsendiagramme und Punktwertungen zu erkennen: Die ordnende Wissenschaft ist nicht ausgeschlossen – auch wenn es eine andere, weniger hierarchische Art von Wissensordnung als die abendländische sein mag.

Zwischen Rationalität und Spiritualität

Zwischen Spuren von Material und Fragmenten des Raumes wird so ein metaphysisches Verhältnis von Rationalität, Spiritualität und Natur ahnbar. Und ein „Kräuterkunde“ betiteltes Bild mag dann gar an eine alte, kaum mehr lesbare Geheimnotiz zur Alchemie erinnern. Auch entsteht durch diese Strukturelemente, diese Linien und Punkte zuweilen so etwas wie eine freie musikalische Notation – nicht als feste Komposition, sondern so wie im herantastenden, improvisierten Vorspiel von indischen Ragas beispielsweise auf der Sitar, wiederholend, modulierend, in langsamer Veränderung.

Noch ein anderes, zweites Element ist in der Ausstellung zu sehen: In einer Art Zelt wird ein Film projiziert. Im 16-mm-Format, stumm, aber in Farbe sind da Ausschnitte aus einem ethnologischen Film über ein komplexes Schamanenritual zu sehen. Ein Vogelauto passiert eine magische Grenze, ernst beobachten kostümierte Gestalten ein seltsam umgedeutetes Hockey-Duell zweier Stockkämpfer und es kommt zu einer rituellen Erdolchung samt blutleckendem Zeremonienmeister, während ein Yogi kopfunter in der Erde steckt, ein anderer sich in ein Tier verwandelt.

Doch hier wurde kein alter Film aus völkerkundlichen Archiven gezogen, um sich gegen die eigene Exotisierung zu wenden: Die „Paara“ (Bengali für Quecksilber) betitelten Aktionen der Gruppe von Magiern in Papierkostümen sind völlig fiktiv. Sie zeigen keine geheimnisvoll weisen Kulte, sondern stehen eher in der Tradition eines absurden, aber durchkomponierten Wandertheaters des Surrealismus. Dabei bestehen in diesem 2017 realisierten Film durchaus Bezüge zu den gemalten Bildern: Die Verwendung alten, armen Materials, eine ähnliche Farbtonigkeit und rudimentäre Inszenierung sowie die Schwierigkeit einer eindeutigen Erfassung.

Ein Bildtitel wie „Kiesel“ mag auf ein ausgetrocknetes bengalisches Flusstal verweisen, „Facing South“ ist auch kulturpolitisch zu lesen: Mit Blick auf den „globalen Süden“ sind jenseits von Klischee und Gleichmacherei in der dortigen Kunst viele Entdeckungen zu machen. Das honoriert auch der Kunstmarkt: Die meisten der gezeigten Arbeiten von Goutam Ghosh hat eine große skandinavische Galerie bereits in internationale Sammlungen vermittelt.

bis 19. 5., Kunsthaus Hamburg