Performance von Nuray Demir im HAU: Das Patriarchat ist nur eine Option

Mit „speculative bitches“ bietet die feministische Künstlerin Nuray Demir choreografisch einen Gegenentwurf zum Patriarchat.

Drei ausdrucksstarke Performance-Künstlerinnen

Reinkarnation feministischer Mythologien: Joana Tischkau, Dina El Kaisy Friemuth, Nuray Demir Foto: Dorothea Tuch

„Sprach’s und raffte empor die Gewänder und zeigte die ganze Bildung des Leibs und schämte sich nicht“, schrieb Clemens von Alexandria im antiken Griechenland über die anatolische Gottheit Baubo, die mit ihren entblößten Genitalien die Welt rettete. Ein Akt, der kurze Zeit später und auch heute eher Empörung, Scham und Degradierung der Entblößten auslösen würde und nicht mit Empowerment in Verbindung gebracht wird.

Entgegen ihren eigentlichen kulturellen und religiösen Bedeutungen wurden Baubo, Kali, Isis, Inana und Co in späteren Übersetzungen ihrer Mythen sogar als „schamlose Huren“ oder „Schlampen“ bezeichnet, und nur selten sind sie Hauptdarsteller*innen ihrer eigenen Geschichte geworden. Viele weibliche Figuren der Mythologie wurden im Laufe der Zeit als Randfiguren männlicher Heldengeschichten abgestellt.

Die bildende Künstler*in und Performer*in Nuray Demir verwebt die Erinnerung an die Vergessenen, Verschrienen von damals mit modernen Frauenbildern von heute und leistet Widerstand gegen bestehende Mythentraditionen. Ihre HAU-Performance „speculative bitches“ holt für jeden Sinn, auch geschmacklich, „those who have lived a thousend lives“, wortwörtlich in die Mitte der anwesenden Gesellschaft.

Demir ist bekannt für ihre radikal interdisziplinären Verbindungen von Wissenschaft und Kunst, die sich in vielen feministischen, postkolonialen Performances gezeigt haben. Die drei Performer*innen um sie herum bilden durch Bewegung, krassen Ausdruck und elektrisierende Begleittöne ein archivarisches Moment, ein feministisches Kollektiv, dass so vor Stärke zu strotzen scheint, dass man unbedingt sofort Teil davon werden möchte.

The bitches are present

Der Bass bebt durch den Körper, der Raum ist voll gespannter Energie. „The bitches are present“, die Bitches von damals sind die Bitches von heute, und sie treten zwischen uns. Alte Gött*innen und Held*innen werden auf die Bühne projiziert und verwandeln sich in neue Held*innen, die, formatiert wie die coolste Girl-Gang des Jahres, ihren Vorgänger*innen weiterhin Raum geben, auch mimisch und gestisch: Zunge raus, Beine breit, wir haben keine Zeit mehr für eure Fremdzuschreibung.

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Aufklärerisch wie ein Liv-Strömqvist-Comic, Bad Ass wie Beyoncé, beschwören die Darsteller*innen eine Welt herauf, in der „ein Mensch nicht nur ein Mann ist“, sondern alle angesprochen werden, die sich als weiblich definieren, die zwischen Strukturen stehen, die von unserer Gesellschaft aufgrund von Sexualität, Herkunft oder Beruf nicht akzeptiert werden.

Solidarität über die Zeit hinweg bedeutet hier nicht, dass beansprucht wird, gleiche Kämpfe auszutragen. „Speculative bitches“ spekuliert über den Status quo sozialer Gefüge, plädiert dafür, dem Individuum als Teil des Kollektivs Raum zu geben. Namen werden genannt, gegen das Vergessen. Eine Alternative zu bestehenden Traditionen, zu bestehenden Gesellschaftsformen und Diskursen wird performativ entworfen.

Dieses Konzept zieht sich gestalterisch wie ein roter Faden durch das Geflecht aus bildender Kunst, Musik und Bewegung und ist eindrucksvoll anzusehen. In Kostüm, Ton und Bildern lassen sich repetitiv Elemente vergangener Tage mit modernem Twist finden, die für das eigene Reproduzieren kritisierter Strukturen sensibilisieren.

Ein Raum für Empowerment

Die unheimliche Energie, die von den Performer*innen auszugehen scheint, bindet die Zuschauer wie in ein Netz in und um die Darstellung herum und lässt sie für einen Moment Teil des Widerstands werden. Empowerment hat hier aber mehr als nur eine toughe Facette.

Nach einem von Kraft und Stärke dominierten ersten Teil der Vorstellung verwandeln die Darsteller*innen die Szene in einen Hain der friedlichen Versammlung und des Erinnerns. Ein Raum des zeremoniellen Miteinanders wird geschaffen, Tee wird ausgeschenkt. Die Musik hat sich verändert, die Spannung fällt ab, und ein bisschen erinnert die Energie an die Zusammenkünfte der Kybele-Anhänger*innen in Christa Wolfs „Kassandra“.

Eine Plastik wird aus einer Teigmasse geformt, die geteilt und gekostet wird, und man fühlt sich so wohl, dass es am Ende schwerfällt, aufzustehen, den Kreis zu verlassen und in die Wirklichkeit zurückzukehren.

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