Essay zum neuen Öko-Kulturkampf: Die fetten Jahre sind vorbei

Über die „Fridays for Future“-Schüler wird gestritten. Die einen bezeichnen sie als Helden, andere als Verblendete. Erst wenn das aufhört, ist Politik möglich.

Zwei junge Frauen stehen vor dem Brandenburger Tor, eine spricht in ein Mikrofon

Luisa Neubauer (re.) spricht gemeinsam mit Greta Thunberg vor Tausenden in Berlin Foto: dpa

BERLIN taz | An einem Freitag im Frühjahr steht Luisa Neubauer auf der Bühne am Brandenburger Tor. Mit Bommelmütze und der ­Kollegin Greta Thunberg. „Wer uns fragt, wie lange wir noch streiken wollen“, ruft sie, „dem sagen wir: Geht zur Politik und fragt, wie lange sie die Klima­krise noch ignoriert.“ Dann trifft sich Neubauer mit Potsdamer Klimawissenschaftlern, sie bespricht in einem ­„Inner Circle“ der Grünen deren neues­ ­Grundsatzprogramm, sie streitet bei „Lanz“ mit Christian ­Lindner, sie referiert beim taz lab. Fast immer trägt sie Schwarz.

Und jetzt sitzt sie ohne Bommelmütze und nicht schwarz gekleidet in einem Café in Berlin-Mitte und wundert sich, dass davon gesprochen wird, eine „Öko-Apo“ sei im Entstehen, so wie 1968 die Jungen gegen ihre Eltern auf die Straße zogen.

Neubauer, 22, ist das Gesicht dieser Bewegung, und tatsächlich hat sie mit zwei anderen vor etwa vier Monaten den Schülerstreik in Berlin erfunden und groß gemacht. „Wir sind keine Öko-Apo, wir sind da schon eher Mainstream“, sagt sie.

Nun gut: Sie ist faktisch aus dem grünen Kreisverband Göttingen, auch wenn sie da nie hingeht. Aber in den mittler­weile 400 Ortsgruppen von Fridays for Future sind auch jede Menge Leute, die sich ­gerade erst politisieren. Oder, wie Neubauer sagt: „Wir erreichen die Insta­gramer, die nicht seit zehn Jahren in einem Grünen-Büro rumhängen.“

Es handelt sich allerdings nicht um die Jungen. So wie Daniel Cohn-Bendit und Rudi Dutschke 1968 nicht für alle jungen Leute auf den Barrikaden standen. Es gibt auch Studenten, die keine Zeit für Proteste gegen das Fehlen einer Zukunftspolitik haben. Weil sie gerade in der Welt herumfliegen. Andere junge Leute demonstrieren für Dieselautos. Wieder andere, etwa von der Jungen Union, sind für den Erhalt der bestehenden ­Wirtschafts- und Machtstrukturen.

Die neuen Moralisten wie etwa Lindner drehen die alten Vorwürfe um

Will sie panic, wie die Schwedin Thunberg, ein Begriff, der einige empört, die den Jugendprotest kritisch sehen? Neubauer überlegt. „Greta will nicht, dass man nach Hilfe schreit, sondern dass man sich der Krise bewusst wird.“ Sie hat wie Thunberg den Eindruck, dass vielen Leuten nicht klar ist, wie schnell und wie radikal gehandelt werden muss. Das wollen sie ihnen jetzt klarmachen. Sie sucht nach einem besseren Wort als „Panik“, das nicht lähmt, sondern Handeln auslöst. „Konstruktive Angst“, sagt sie irgendwann.

Was will diese Bewegung sonst noch? Sie will keine linke Räterepublik, keine sexuelle Revolution, sie will eine Klimapolitik durchzusetzen, die Menschen, deren Lebensspanne an das 22. Jahrhundert heranreicht, eine Zukunft ermöglicht. In dieser Woche hat Fridays for Future ein Forderungspapier vorgestellt, in dem die Bewegung Bundes-, Landes- und Kommunalregierungen auffordert, alles Erforderliche zu tun, um das Pariser Abkommen zur Begrenzung der Erderhitzung auf 1,5 Grad einzuhalten. Noch knapper kann man sagen: Sie wollen eine Bundesregierung, die die Politik macht, die Union und SPD versprochen haben.

Konkrete Forderungen sind: Die Energieerzeugung bis 2035 komplett erneuerbar machen und den CO2-Ausstoß auf null bringen. Als politische Werkzeuge schlagen sie vor: eine CO2-Steuer. Ein Viertel der deutschen Kohlekraftwerke noch in diesem Jahr abschalten. Kohleausstieg bis 2030 und nicht erst 2038. Umerziehungsmaßnahmen, Gebote oder Verbote sind nirgends zu entdecken.

AKK wäre ein Schritt zurück, würde sie das Problem weiter ignorieren

Dennoch werden speziell Thunberg und Neubauer bereits auf die alten Revolutionsfolien projiziert: Die einen malen Ikonenbilder, die Zweiten streicheln ihnen altväterlich übers Haar, die Dritten murren, dass Neubauer „nicht radikal genug“ sei – so, wie sie selbst früher angeblich waren. Und die Vierten rufen nach der Polizei, wahlweise wegen Schulschwänzen, Verbalradikalismus, Scheinheiligkeit, Religionsstiftung, Tugendwahn, Gefährdung des Wirtschaftsstandorts …

Die mediengesellschaftliche Diskussion wird in Deutschland traditionell von den Alarmrändern bestimmt, früher war das von links, neuerdings von rechts, aber stets wird alles in moralischen Höhen verhandelt: Nazikeule, Gutmenschkeule, Freiheitsberaubungskeule, Elitenverschwörungskeule, Bio­­eli­ten­keule, Umerziehungskeule. Ökomoralkeule.

Allzu oft geht es dabei aber nur darum, das öffentliche Gespräch zu Bullshit zu erklären. Und damit ist man unweigerlich bei dem grundsätzlichen Versuch der CDU-Vorsitzenden Annegret Kramp-Karrenbauer, des FDP-Chefs Christian Lindner und anderer, das Problem eines vertragswidrigen Fehlens von Klimaschutz in Deutschland zu ignorieren, dafür einen Pseudokonflikt zu entfachen und einen guten alten Charakter als Pappkameraden wieder ins Spiel zu bringen: Den „calvinistischen Öko“, den „linksideologischen Grünen“ (Lindner), der unter Instrumentalisierung von gehirngewaschenen Jugendlichen den Deutschen ihre rechtmäßige Kultur und Lebensweise verbieten will, die offenbar aus Autofahren, Industriefleischverzehr und einer bipolaren Aufteilung in Männer- und Frauen­klos besteht.

Das sind die neuen Moralisten. Sie drehen die alten Vorwürfe um, indem sie die Minderheit der Veganer oder klitzekleine Umweltverbände wie die Deutsche Umwelthilfe als riesige Gefahren für das gute Leben stilisieren.

Es ist eine Schizophrenie, die erstens davon ablenkt, dass die ökopolitischen und geschlechterpolitischen Beschlüsse der vergangenen Jahre von CDU, CSU und SPD durchgesetzt oder zumindest unterschrieben wurden. Beim Paris-Abkommen zur Begrenzung der Erderhitzung wird das besonders deutlich: Dieselben Parteifreunde, die das Abkommen unterschrieben haben, stigmatisieren es nun. Bezeichnen ihre eigenen Umsetzungsmaßnahmen, wie etwa Verkehrsminister Scheuer, als „gegen den gesunden Menschenverstand“ gerichtet.

Das zeigt einerseits, dass diese Gesellschaft einen weiten Weg gegangen ist. Ihre Parameter haben sich umgedreht. Der Mainstream ist jetzt nicht mehr muffig wie zu 68er-Zeiten, er ist europäisch und gesellschaftsliberal. Dabei aber nur bedingt sozialökologisch, das hat man in der Fixierung auf das Soziale und das Identitätspolitische vernachlässigt. Daran hat Kanzlerin Merkel ihre Politik orientiert. Doch da seit 2015 die schönen Jahre mit Merkel vorbei sind, ist die große Frage: Und nun? Vorwärts oder zurück? Und da sehen wir sowohl bei der implodierenden SPD,als auch bei der verunsicherten Union klare Rückwärtsbewegungen.

Kramp-Karrenbauer, die derzeitige SPD-Vorsitzende Andrea Nahles und interessanterweise auch der als innovativ gelabelte Lindner versuchen, die Zeit anzuhalten und dem sozialökologischen Jahrhundert durch Rückzug zu entkommen. Konkret, indem sie das Problem in den vorpolitischen, kulturellen Bereich verlagern und Menschenrechte auf Schwenkgrillen oder Stickoxide propagieren. Nicht weil ihnen das Problem nicht klar wäre, sondern weil sie keine Lösungen haben. Weil sie im Moment nicht glauben, Lösungen finden zu können und/oder in der Lage zu sein, Mehrheiten dafür zu gewinnen.

Luisa Neubauer, Klimaaktivistin

„Es sind radikale Maßnahmen notwendig“

Was ist das grundsätzliche Pro­blem? Die fortschreitende Erhitzung der Erde entsteht durch Treibhausgasemissionen, die vor allem durch fossile Brennstoffe verursacht werden, auf denen unsere Art zu wirtschaften basiert. Folgen sind unter anderem Landverlust, Kriege, Hungersnöte, Abermillionen Klimaflüchtlinge. Es geht also nicht um die „Umwelt“, sondern um eine gute Zukunft der Menschen. Eine zentrale Lösung besteht darin, das Verbrennen fossiler Energie zügig einzustellen und auf erneuerbare Energien umzusteigen. Das ist die große Herausforderung unserer Zeit: eine demokratische Mehrheit für sozialökologische Politik und Wirtschaft zu gewinnen. Keiner weiß, wie das geht.

Es geht jedenfalls nicht, indem man das Zeitalter des persönlichen Verzichts und der menschlichen Mäßigung für gekommen erklärt. Das ist die Überzeugung von Ralf Fücks, einem führenden Ökointellektuellen des Landes und langjährigen Vorstand der grünennahen Böll-Stiftung. Fücks, 67, warnt vehement vor einem „Ökocalvinismus“, der im Namen der Weltrettung Verzicht und Selbstbegrenzung predigt und gegen den sich dann all jene formieren können, die sich nicht vorschreiben lassen wollen, wie sie leben. An diesem Tag sitzt er in Berlin-Mitte, nahe Bahnhof Friedrichstraße, in den Räumen der Liberalen Moderne. Das ist der Thinktank, mit dem er die ökologische Modernisierung der Wirtschaft von einem grünen Nischenprojekt ins Zentrum der Gesellschaft rücken will. Wie immer trägt er Schwarz und den Kopf haarfrei.

„Die Privatisierung der Klima­frage ist falsch“, sagt er. Fücks ist allergisch gegen die Vorstellung, es sei Aufgabe der Politik, Menschen umzuerziehen. Er hat sich auf die ganz harte Tour in den Siebzigern in einer westdeutschen kommunistischen Sekte vom Gegenteil überzeugt.

„Wenn ich die Leidenschaft auf Twitter für Lebensstilfragen wie Essen oder Autos sehe, das steht in keinem Verhältnis zu Lösungen, die in eine nachhaltige Ökonomie führen“, sagt er. Tatsächlich scheint die „Leidenschaft“ für ökologische Modernisierung wirklich noch unterentwickelt zu sein. Es ist unklar, ob Fücks das traurig oder wütend macht.

Und man hat ja wirklich diese linksliberalen oder linksgrünen Freunde, die bei Identitätsfragen durch die Decke gehen, engagiert über Fleischessen und Porschefahren schimpfen können, aber sofort einschlafen, wenn die Worte „ökologische Modernisierung der Wirtschaft“ fallen.

Rauch strömt aus Kohlekraftwerken

Lange Zeit durften die Kohlekraftwrke friedlich vor sich hin pusten, heute werden sie attackiert Foto: dpa

Fücks sieht im Moment zwei Linien, auf denen um Hoheit gerungen wird. Die erste ist die alte Linie von Ökonomie und Ökologie, also die fossilen Geschäftsmodelle von heute gegen die postfossilen Geschäftsmodelle. Da wird als Hauptargument immer gesagt: Klimaschutz ist schon okay, darf aber nie der Wirtschaft in die Quere kommen, also Wachstum (Union, FDP) und Arbeitsplätze (SPD) gefährden. Dass sich die Pro­bleme aus der selbstzerstörerischen Art des Wirtschaftens ergeben haben und deshalb nicht mit einer Beibehaltung oder Intensivierung zu lösen sind, ist in diesem Politikframe nicht denk- und nicht verhandelbar. Das ist ein Teil der Blockade.

Fücks sieht den „ökologischen Calvinismus“ aber eben nicht nur als Pappkameraden, den interessierte Politiker und Medien aufstellen, sondern seit dem Club of Rome in der Ökodebatte angelegt. Dessen Klassiker, „Grenzen des Wachstums“, war vor knapp 50 Jahren der Beginn der ökologischen Frage und zielte stark auf Kontrolle von Produktion, Konsum und sogar Fortpflanzung. Fücks befürchtet, dass eine Öko-Apo mit Endzeitstimmung und Verzichtsrhetorik den Kulturkampf manifestiert und Fortschritt verhindert.

Er hat ein Buch mit dem Titel „Intelligent wachsen – die grüne Revolution“ geschrieben. Darin geht es um ein grünes Wirtschaftswunder statt um Mäßigung und Verzicht. Er wünscht sich auch bei den Jungen, die jetzt auf die Straße gehen, „mehr Futurismus“ statt Endzeitstimmung. „Ist das eine Bewegung für ein Grünes Wirtschaftswunder?“, fragt er, ganz offenbar rhetorisch. Denn von Technologien, Innovationen, Unternehmertum ist bei Fridays for Future bisher nicht die Rede.

Eine moralisierende Bewegung sei nicht realitäts- und lösungsorientiert, wenn man die globalen Wachstumsschübe sieht. Sie liefe hinaus auf den sinnlosen Clash mit einer moralischen Gegenbewegung, deren Hauptziel in ebenjenem moralischen Clash besteht, der dann politisches Handeln weiter hinausschieben soll. Fücks’ Punkt ist daher die Überwindung des alten linken und grünen Defizits: vom richtigen Sprechen zu einer gelebten Kultur unternehmerischer und politischer Mündigkeit zu ­kommen.

Wie eine Mehrheit für Zukunftspolitik gewinnen?

Er plädiert für Einbeziehung der Zukunftskosten in die Preise („ökologische Wahrheit“). Er findet auch fleischfreies Essen oder Eigenstromproduktion gut als Ausdruck individueller Freiheit. Aber: „Ohne grüne ­Revolution werden wir den Wettlauf mit dem Klimawandel nicht ­gewinnen.“

Also weder Radikalisierung einer moralischen Umkehrbewegung noch ein trotziges „Weiter so!“, sondern etwas Drittes: eine fundamentale Veränderung der industriellen Produktionsweise, „eine neue Synthese zwischen Natur und Technik“, wie er sagt. Seine Formel: Sonnenenergie mal menschliche Kreativität, mit Ordnungspolitik als Steuerungsinstrument.

Aber noch mal: Woher kommt eine neue Mehrheit für eine solche ernsthafte Zukunftspolitik?

Ein paar hundert Meter entfernt vom Büro der Liberalen Moderne betritt am nächsten Tag Bernd Ulrich ein Café am Hackeschen Markt. Trägt Freizeitlook. Sieht entspannt aus, vielleicht weil er gerade vom Yoga kommt, aber das könnte auch Einbildung sein. Der Politikchef und stellvertretende Chefredakteur der Wochenzeitung Zeit hat in einem außergewöhnlichen Move vor etwa anderthalb Jahren Öko ins Zentrum seiner politischen Berichterstattung gerückt. Vorher waren dort auch die Ökos für Öko zuständig, vorne liefen die beliebten Was-Merkel-sich-so-denkt-Stücke.

Von der moralischen auf die politische Ebene

Ulrich, 58, ist politisch später sozialisiert als Fücks, er sieht menschliche Entwicklung generell als wichtiges Moment einer Veränderung. Er selbst hat sich auch verändert, unter anderem ist er seit einem Jahr ­Veganer. In einem sehr ­politischen Leitessay hat er jüngst auch folgenden Satz geschrieben: „Es geht um den Kampf zwischen dem inneren Schweinehund in den meisten von uns und dem besseren Engel unserer selbst.“ Einig ist er sich aber mit Fücks in einem zentralen Punkt: Das Thema muss von der moralischen und der ­kulturellen auf die politische Ebene gehoben werden. Nur wie?

Moral und Apokalyptik seien vor 30 Jahren die stärkste Waffe der Ökobewegung gewesen, um gehört zu werden und den Graben zwischen der damaligen Gegenwart und einem Pro­blem zu überwinden, das in der Zukunft lag. Manche Ökos hingen heute noch in der Moralisierung drin, weil sie das so gelernt haben. „Aber jetzt ist der Klimawandel da, also braucht es keinen Altruismus, sondern intelligenten Egoismus als Antrieb“, sagt Ulrich.

Für ihn ist die zunehmende Härte aller Diskussionen eine Folge der zunehmenden Unruhe der Gesellschaft, und diese wiederum speist sich aus dem zumindest unterbewusst realisierten Defizit an Zukunftspolitik. Das Abwarten und Nichthandeln dieser Regierung in allen Fragen, vor allem der ökologischen, sei „beispiellos.“

Beispiellos, tatsächlich?

„Ja, gemessen daran, was sie sich vorgenommen haben. Sie haben in Paris eine Revolution unterschrieben, dann verheimlicht und wenn sie jetzt umgesetzt werden muss, beschimpfen sie die Grünen, als hätten die 13 Jahre eine Ökodiktatur veranstaltet.“

Ulrich sieht hier den Übergang von der „Wattierung“ der Probleme durch Kanzlerin Merkel zur Moralisierung von Kramp-Karrenbauer. Weil sie ebenjene attackiere, die darauf bestehen, dass nun endlich Zukunftspolitik gemacht wird. Die SPD spielt bezeichnenderweise auch in der Klimadiskussion keine Rolle.

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.

Vielleicht kann man ja das übliche AKK-Portfolio (Frau, so­zialkatholisch, gesellschaftsliberal, rückschrittlich) zum jetzigen Zeitpunkt vergessen und sich auf diesen Punkt konzen­trieren: Merkel war verbale Akzeptanz und gleichzeitige Einhüllung des Problems, Kramp-Karrenbauer könnte der Schritt zurück sein, wenn sie wirklich weiterhin das Problem ignoriert und stattdessen jene, die es lösen wollen, als Bedrohung stigmatisiert.

Aber genau dieses Verdrängen funktioniert nicht mehr lange, sagt Ulrich. „Die Verdrängungsenergie, die eine Gesellschaft aufbringen muss, um bestimmte Probleme nicht zu sehen, ist genauso groß wie das zu Verdrängende. Das neurotisiert diese Gesellschaft und jeden Einzelnen.“

Handelt es sich um unfassbares Moralgeschwätz ohne Wert?

Nun haben wir aber nicht nur das Problem, dass „die anderen“ verdrängen, auch wir selbst kommen nicht klar mit den Widersprüchen unseres Lebens. Oder wie ist es zu erklären, dass ökologisch aufgeklärte Menschen ständig darüber räsonieren, was für ein perverser Wahnsinn das mit den Billigflugtickets sei, während sie selbst welche in der Hand halten, so billig, dass sie ja praktisch gar nicht anders konnten, als schnell irgendwo hin zu fliegen?

Trifft also der Vorwurf der Gegenmoral zu, nach dem es sich in unserem Fall um unfassbares Moralgeschwätz ohne Wert handelt? Na ja, sagt Ulrich, erstens gelte der Spruch von Max Weber: Heuchelei ist die Verbeugung des Lasters vor der Tugend. Zweitens könne nur dort Heuchelei sein, wo Menschen sich etwas vornehmen. „Deshalb ist der Nachweis, dass es Ökoheuchler gibt, völlig unwichtig.“

Die Privatisierung von Ökopolitik meint: Luisa Neubauer und die bayerische Grünen-­Politikerin Katharina Schulze werden als Vielfliegerinnen „entlarvt“ – um damit Zukunftspolitik zu desavouieren und zu verhindern. Dahinter steht aber das Grunddilemma des Problems: Unsere politische Einstellung ist mit einem gelebten Weltbürgertum nicht zu vereinen. In ökologischer Hinsicht verhalten wir uns so, als ob wir uns als Feministen bezeichnen, aber zu Frauen immer noch „Schlampe“ sagen würden. Das tiefer liegende Problem ist für Bernd Ulrich aber noch mal ein anderes: Er sieht die deutsche Gesellschaft feststecken in einer „Maß-und-Mitte-Orthodoxie“. Es gebe ein „deutsches Radikalitätsverbot“.

Heißt: Es tönt mal halb links und mal halb rechts, aber letztlich trifft man sich in der Mitte. Dieses westdeutsche Schmidt-, Kohl-, Schröder-, Merkel-Prinzip des 20. Jahrhunderts gilt weiter und ungeachtet der Radikalität der Probleme. Die AfD sammelt den Protest dagegen mit dem Angebot eines radikalen Rückzugs in eine Welt ohne Klimawandel. Das Problem der Erderhitzung ist aber halt auch nicht im bloßen Widerstand gegen die AfD zu lösen. Als erster Politiker, sagt Ulrich, habe der Grünen-Vorsitzende Robert Habeck das deutsche Radikalitätsverbot für sich abgelehnt, „allerdings ohne es bisher jemals gebrochen zu haben“.

Kretschmann haut's aus den Schuhen

Tatsächlich sagt Habeck seit einiger Zeit ab und an, dass den radikalen Problemen der Realität nur mit radikalen Lösungen begegnet werden könne. Nur radikal sei daher realistisch. Das ist im Grunde die Ulrich-These.

Den Grünen Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg haut’s bei solchen Sätzen immer fast aus dem Schaukelstuhl. „Maß und Mitte“ ist Winfried Kretschmanns zentraler politischer Leitstern, damit steht er morgens auf und geht abends zu Bett und damit ist er (allein) zur führenden Partei von Baden-Württemberg geworden. Kretschmann ist ohne jeden Zweifel ein Hardcore-Öko und Hardcore-Demokrat. Er hat als Person eine Zweidrittelmehrheit hinter sich, als Partei eine einfache Mehrheit. Aber er scheint nicht richtig daran zu glauben, dass er sie für sozialökologischen Wandel bekommen hat.

„Ich würde meinen radikal-realistischen Ansatz sofort einpacken, wenn die herrschende Politik noch die Menschen beruhigen würde“, sagt Ulrich. „Aber das tut sie ja nicht.“ Deshalb glaube er, dass die Zeit der Merkel-plus-SPD-Politik vorbei sei, in der die Kanzlerin und ihr damaliger Umweltminister Gabriel vor Eisschollen posierten und viele das tatsächlich für Handeln hielten. „Alles wird anders“, heißt sein neues Buch, das im Herbst „das Zeitalter der Ökologie“ ausruft.

Ulrich sieht aber auch die erste Generation Grünenpolitiker mit sozialistischer oder kommunistischer Phase am Ende, weil „verhext von ihrer Vergangenheit, einer Kombination aus einem wahnsinnigen Trauma und einer noch wahnsinnigeren Erfolgsgeschichte. Die Heilung und Anpassung haben sich zu tief in ihre Biografien eingegraben, als dass man noch mal über die Frage reden darf, wie der Mensch eigentlich lebt.“ Deshalb könnten sie die ökologische Frage nicht mehr lösen.

Auch Ulrich sagt: „Wir bewegen uns in einen Generationenkonflikt hinein, gegen den 1968 ein Kindergeburtstag war.“ Je länger nichts getan werde, desto größer werde der Graben zwischen den Alten und den Jungen, deren Perspektive immer kleiner wird.

„Massives Aufklärungsversagen der Grünen“

Das ist der objektive Interessenkonflikt in der Gesellschaft. Und er betrifft eben nicht nur die von Kramp-Karrenbauer repräsentierte Erwachsenenteilgesellschaft, sondern auch den Teil der Grünen, der Tränen der Rührung in den Augen hat, wenn Neubauer zu ihnen redet. Die Ablehnung, das Schulterklopfen und auch die Rührung gilt der Moral, je radikaler desto besser, denn dann kann man sich besser fühlen.

Aber auch die gerührten Grünen versaufen im Moment nicht nur das kleine Häuschen der Oma, sondern das ihrer Kinder. Das hat Neubauer ihnen bei ihrer Rede zu sagen versucht. Es gebe ein „massives Aufklärungsversagen“, speziell der Grünen, sagt sie auch in dem Berliner Café. Aber wie kriegt man eine Mehrheit für ökologische Zukunftspolitik?

„Nicht, indem man vorher Konflikte unter den Teppich kehrt. Sondern mit Ehrlichkeit. Einerseits muss auf den Tisch gelegt werden, wie krass wir ­unserem Planeten in den ­letzten 100 Jahren geschadet ­haben und was das für unsere Lebensumstände in der Zukunft bedeutet. Und andererseits braucht es Ehrlichkeit im Bezug auf die anstehenden Veränderungen für Gesellschaft und Wirtschaft. Die Überwindung des ‚Klimaschutz gefährdet Wohlstand‘-Paradigmas. Das zeugt vor allem davon, dass die politische Elite sich nicht traut, mit den Menschen Klartext zu sprechen. Denn, ja, es sind radikale Maßnahmen notwendig, das wird unbequem – für alle.“

Ist Neubauer ein typisches Protestprodukt eines linksgrünen Bürgertums? Sie kommt aus Hamburg-Iserbrook, einem bürgerlichen Stadtteil, sagt sie. Aber nicht Blankenese-mäßig. Ihre Eltern sind Gründer eines kleinen Altenpflegeheims. Ihre Mutter liest die taz, okay. Sie selbst hat mal einen taz-Genossenschaftsanteil geschenkt bekommen. Aber sie fühlte sich nicht vom Elternhaus politisch agitiert.

In die Grünen-Partei trat sie 2017 mit der „Habeck-Welle“ ein, wie sie sagt: „Robert Habeck hat es für mich als einer der ersten Grünen Politiker geschafft, den Eindruck zu vermitteln, dass grüne Politik anschlussfähig ist, dass sie auf zwei Beinen steht und sich mit klugen Konzepten behaupten kann – auch jenseits von Tierwohldebatten und einem Atomausstieg.“

Es kam so ein bisschen eins zum anderen: Mit 18 wurde sie Jugendbotschafterin für Afrika, sie machte ein Praktikum beim Greenpeace Magazin. Währenddessen lernte sie Bill McKibben kennen, den Gründer der Klimaschutzorganisation 350.org. Später arbeitete sie dort.

Lernte, wie man mit Politikern redet, wie man Bewegung organisiert, wie man Medien interessiert. Anfangs rief sie an, jetzt klingelt dauernd ihr Telefon, auch im Berliner Café. Im Grunde ist sie ein Vollprofi, wie Christian Lindner es fordert. Eine, die im Gegensatz zu ihm auch von dem französischen Präsidenten Macron empfangen wird.

Neubauer sieht die Entwicklung in der Tendenz wie Bernd Ulrich: Die Merkel-Regierungen hätten ein bisschen Klimaschutz gemacht, aber an dem Punkt aufgehört, an dem es hätte anfangen müssen, weil es unbequem wurde und ja die Gesellschaft auch nicht darauf drängte. Und jetzt sind die Merkel-Jahre vorbei – und die Jungen sind da. „Ja, jetzt sind wir da“, bestätigt Luisa Neubauer. „Viele, viele Jahre zu spät.“

Bernd Ulrich sagt, die junge Greta Thunberg und auch Luisa Neubauer seien vergleichbar mit dem Kind in dem Märchen „Des Kaisers neue Kleider“. In dem Moment, da es in die Menschenmenge ruft, dass der Kaiser nackt ist, kann plötzlich die ganze Bevölkerung sehen, was sie eigentlich die ganze Zeit schon gewusst hat. Ab da ist alles anders.

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