Kampf gegen Verdrängung in Lagos: Die afrikanische Gentrifizierung

In der nigerianischen Metropole Lagos werden gerne die Mieten erhöht. Vor allem aber wird einfach abgerissen. Bimbo Osobe will da nicht länger zusehen.

Stände mit Sonnenschirmen an einer Eisenbahnlinie

Bimbo Osobe kämpft gegen Vertreibung aus den Elendsvierteln Foto: Katrin Gänsler

LAGOS taz | Wer in Nigerias Megacity Lagos unterwegs ist, braucht Zeit und Geduld. Der Verkehr ist unberechenbar, und Pendler stehen täglich viele Stunden im Stau, wenn sie nicht gerade morgens zwischen vier und fünf Uhr aufbrechen und abends lange warten, bevor sie von der Arbeit nach Hause fahren. Kommt es auch noch zu einem Unfall oder einer Straßensperrung, braucht man für zwei Kilometer mitunter zwei Stunden. Der Lärm der Autohupen, die Abgase, fluchende Autofahrer und das Wissen, dass sich diese Szenen täglich wiederholen, tragen viel zum Stress bei.

An diesem Sonntagmorgen ist es jedoch nicht so chaotisch wie üblich. Noch hat sich kein Stau auf der Straße zum Hafen von Apapa gebildet. Sie ist eines der Nadelöhre, durch das sich täglich Tausende Lastwagen zwängen müssen. Sonntags sind stattdessen Jogger auf dem Mittelstreifen unterwegs; ein ungewohntes Bild.

Bimbo Osobe kommt dennoch zu spät. Gegen neun Uhr erreicht die Frau mit den langen Haaren den Treffpunkt in Badia East. Er liegt unterhalb der Autobahn. Der sandige Boden ist mit Plastiktüten und bunten Styroporschälchen für Fertigessen übersät. Längst nicht mehr genutzte Schienen führen nach Nirgendwo.

Vor den Lastwagen, die die Container in den Hafen bringen, haben Frauen Verkaufsstände aufgebaut. Es gibt Tee, das Maisgericht Pap, Puff-Puff genannte runde Teigbällchen und in durchsichtige Plastiktüten abgefülltes Trinkwasser. Das, was aus dem Wasserhahn kommt, ist ungenießbar; doch hier hat ohnehin niemand einen Anschluss.

Den Bewohnern blieben nur Sonnenschirme

Bimbo Osobe atmet einmal kurz durch und sagt knapp „traffic“. Das Wort „Verkehr“ entschuldigt in der Stadt jede Verspätung. Sie trägt Jeans und ein T-Shirt, auf dem „Don’t get elected to get us evicted“ – „Ihr werdet nicht gewählt, um uns zu vertreiben“ – steht. Dann geht es los, immer den Schienen entlang, weg von der Straße.

Je weiter sie vorankommt, desto mehr große, ausgeblichene Sonnenschirme tauchen auf. Unter zwei dieser Schirme, die die Sonne und den Regen abhalten sollen, sortiert eine Frau Plastikflaschen. Neben ihr stehen drei graue Plastikstühle, eine Holzbank, eine stabile Plastiktüte liegt auf dem Boden. Mehr ist ihr nicht geblieben. „So sieht es seit der letzten Zwangsräumung aus“, sagt Bimbo Osobe. Die ist gerade einmal drei Monate her. Die Hütten wurden abgerissen, das Leben findet nun unter Schirmen statt. Wirklichen Schutz bieten sie keinen, stattdessen markieren sie, wer wo seine letzten Habseligkeiten verbirgt.

Mehrere Menschen laufen auf Eisenbahnschienen entlang, am Rand sitzen Leute unter Sonnenschirmen

Unter den Sonnenschirmen in Badia East sind nicht nur Verkaufsstände. Sie zeigen auch an, wer wo seine letzten Habseligkeiten hat Foto: Katrin Gänsler

Die Vertreibung ist das vorläufige Ende einer ganzen Serie, die schon vor sechs Jahren begann. Damals wurden mindestens 266 Hütten, Häuser und Geschäfte von Bulldozern niedergewalzt. Auch Bimbo Osobe verlor ihr Heim. Protesten zum Trotz wurden die Räumungen 2015 und 2017 fortgesetzt – die nigerianische Art der Gentrifizierung. Wer nicht zu Verwandten geflüchtet ist oder anderswo eine Bleibe gefunden hat, haust heute neben einem Schirm unter Planen oder in uralten Campingzelten. 15.000 von ursprünglich 30.000 Einwohnern hat das Viertel noch. Es existieren weder Toiletten noch Duschen oder Strom. Dabei ist Badia East selbst Ergebnis einer früheren Vertreibung, vor 45 Jahren, als neuer Wohnraum für den Neubau des Nationaltheaters entstand. Jetzt ist die Fläche zum urbanen Filetstück geworden. „Von hier aus lassen sich zahlreiche Viertel gut erreichen, auch der Hafen“, sagt Bimbo Osobe.

Der Dokumentar von Elend und Vertreibung

In Lagos gilt Land als kostbares Gut und Spekulationsobjekt. Vor zwei Jahren schätzte die Regierung, dass an jedem einzelnen Tag im Jahr 6.000 Menschen in die Megacity ziehen. Die steigende Einwohnerzahl – aktuell sind es rund 22 Millionen Bewohner – spricht für sich. Schätzungen zufolge sind zwei Drittel von ihnen arm.

Es sind Frauen, die frühmorgens selbst gekochtes Essen verkaufen, selbsternannte Parkplatzeinweiser, Schuhputzer, Minibusfahrer, Putzfrauen, Menschen, die jeden Tag auf einen kleinen Hilfsarbeiterjob hoffen, um über die Runden zu kommen, die am Straßenrand sitzen. „Urban Poor“, die städtischen Armen, nennt Deji Akinpelu sie. Er begleitet Bimbo Osobe durch Badia East und trägt unter seinem Arm einen schwarzen Motorradhelm, auf dem eine unscheinbare Kamera installiert ist.

Kleinbzusse ohne Ende auf einem Platz in der Stadt

Drei Stunden bis zum Arbeitsplatz unterwegs: Verkehrschaos im Zentrum von Lagos Foto: reuters

Akinpelu ist Fotograf und dokumentierte vor ein paar Jahren zum ersten Mal eine Zwangsräumung in Otodo-Gbame. Diese Gegend liegt im neuen Stadtteil Lekki, der direkt an der Küstenlinie entstanden ist und in den vergangenen Jahren nach und nach ausgebaut wurde. Im Jahr 2017 sind dort etwa 30.000 Menschen vertrieben worden, weitere 30.000 könnten schon bald folgen.

Lekki gilt heute bei jungen Hochschulabsolventen als angesagtes Viertel. Es grenzt an Lagos Island sowie Victoria Island. Irgendwann einmal vom Festland – Lagos Mainland – auf die Inseln zu ziehen, das ist der Traum zahlreicher Lago­sianer. Von Lekki aus sind die Inseln gut erreichbar und die Mieten noch finanzierbar, zumindest für diejenigen, die über einen Job mit regelmäßigem Einkommen verfügen. Supermarkt- und Fastfoodketten haben sich niedergelassen, kleine Hotels sind ebenso wie Kirchen entstanden. Von den Hauptstraßen abgesehen sind die Staus noch nicht so nervenaufreibend wie in den anderen Stadtvierteln. Noch wirkt alles im Vergleich zum „alten Lagos“ systematisch und geordnet – aber auch gesichtslos.

Seinen ersten Besuch in Otodo-Gbame erinnert Deji Akinpelu als „alarmierend und faszinierend“ zugleich. Die Idee eines Dokumentarfilms über den Versuch, bezahlbaren Wohnraum zu finden, entstand. Daraus entwickelte sich die Miniserie „Kelechi’s Quest“, die auf YouTube zu finden ist. Das bloße Festhalten von Szenen und Momenten reicht Otodo-Gbame heute nicht mehr aus. Deshalb gründete er im Herbst 2018 die Initiative „Rethinking Cities“. Vor der Gouverneurswahl am 9. März ist es sein erklärtes Ziel, die Kandidaten und deren Stellvertreter mit den städtischen Armen zu konfrontieren.

Wenn Politik auf nigerianische Wirklichkeit trifft

Bimbo Osobe bleibt vor einem jungen Mann stehen, der unter einem ausgeblichenen Sonnenschirm seine Nähmaschine aufgestellt hat. Sie rattert, als er einen zerrissener Rucksack flickt. Hinter ihm stehen ein paar zusammengezimmerte Kisten, auf denen fleckiger Schaumstoff liegt. „Eine Vierzimmerwohnung“ nennt Osobe es zynisch und hebt den Schaumstoff etwas an.

Nachts quetschen sich hier vier Menschen auf die Matratzen. Auf der Holzbank sitzt die zehnjährige Esther und schaut dem Schneider zu. Auf die Frage, ob sie zur Schule geht, schüttelt das hagere Mädchen den Kopf. Seitdem Badia East geräumt wurde, ist die nächste zu weit weg, erzählt sie.

All das möchte Bimbo Osobe gerne den Politikern erzählen, die sich um das Gouverneursamt bewerben. 45 Kandidaten gibt es. Wie zum Beweis, dass sie auch wählen gehen wird, kramt sie ihre Wählerkarte aus dem Portemonnaie. Sie und die übrigen Bewohner von Lagos, die im informellen Sektor arbeiten, die jeden Tag Stunden brauchen, um zur Arbeit und wieder nach Hause zu kommen, die keine Ersparnisse haben und für die jede Krankheit zur existenziellen Bedrohung wird, sind rein rechnerisch die Wählermassen; ihre Belange und Forderungen könnten zählen.

Auf die Floskeln der Politik hat Deji Akinpelu in diesem Wahlkampf keine Lust mehr. „Wir bieten jedem jungen Politiker deshalb an, dass wir ihm Lagos zeigen. Wir zeigen ihnen, wo die Probleme liegen, wir statten sie mit Wissen aus, bringen sie mit Organisationen zusammen. Wir müssen endlich einen Dialog schaffen.“ Deji Akinpelu bringt die Kandidaten hinaus aus der Komfortzone der klimatisierten Räume und hinein nach Badia East.

Über den Besuch von Babatunde Gbadamosi von der Action Democracy Party gibt es ein langes Video bei Facebook. Gbadamosi hat das rote „Don’t get elected to get us evicted“-T-Shirt übergestreift und stapft mit Bimbo Osobe durch den Schlamm. Es regnet in Strömen. Nach knapp zwanzig Minuten verspricht er, dass es unter seiner Regierung „bezahlbaren Wohnraum“ geben werde, und erklärt, wie schnell auf der Fläche der Grund für neuen Wohnraum geschaffen werden könnte.

Auf seinem Wahlkampfvideo sind auch Szenen aus Badia East zu sehen. „Sehr emotional“ sei das für die Einwohner gewesen, sagt der Fotograf und Initiator Deji Akinpelu. Während einer Fernsehdebatte spricht auch Babajide Sanwo-Olu, ein Kandidat des All Progressives Congress, über eine Landreform. Generell müssten die Lebensbedingungen verbessert werden. Dazu gehöre der Ausbau von Wohnungen und Straßen, Müllentsorgung sowie die Schaffung eines Abwassersystems.

Diskutiert wird das unter dem Begriff Slum Upgrading – die Aufwertung des Elendsviertels. „Unsluming wäre besser“, sagt Simon Gusah. Er ist einer der Leiter des Projekts „100 widerständige Städte“ der Rockefeller Foundation. Zum 100-jährigen Bestehen der Stiftung im Jahr 2013 hat sie 100 Städte weltweit ausgewählt, um diese bei den aktuellen Herausforderungen zu unterstützen und widerstandsfähiger zu machen. In Lagos wird an einem Plan für die Landesregierung gearbeitet.

„Um Slums loszuwerden, muss man Armut loswerden“

Unter Gouverneur Babatunde Fashola entstand bereits 2013 ein Entwicklungsplan für Lagos. Darin heißt es im Kapitel „Slum Upgrading“, dass es zwischen zwei und drei Millionen informelle Wohneinheiten gebe. Die Konzentration auf Wohnungen geht Gusah jedoch nicht weit genug: „Wird über Slum Upgrading gesprochen, handelt es sich um Infrastruktur, aber nur selten um Menschen. Um einen Slum loszuwerden, muss man die Armut loswerden.“

Entscheidend sei dafür die Entwicklung und der Umgang mit dem informellen Sektor, in dem mehr als die Hälfte der Erwachsenen ihr Einkommen verdient. Natürlich arbeiten sie auch in den Slums. Werden also ganze Nachbarschaften niedergewalzt, geht nicht nur Wohnraum, sondern auch Einnahmequellen gehen verloren. Staatliche Aufmerksamkeit gibt es dafür aber so gut wie nie. „Im Entwicklungsplan für Lagos stehen dazu nicht einmal drei Seiten“, sagt Gusah, „dabei muss diskutiert werden, wie man den formellen und informellen Sektor zusammenbringt, wie politische Linien und Realität.“

Dass Wohnraum immer knapper wird, liegt auch an der geografischen Lage am Golf von Guinea. Lagos kann sich nicht nach Süden ausdehnen. Daran ändert auch ein umstrittenes Projekt namens Eko Atlantic wenig, das dem Meer Land abgewinnen will. Seit 2008 wächst eine Halbinsel, die Wohnraum für bis zu 300.000 Menschen und ein neues Geschäftsviertel bieten soll. Platz haben hier aber nur die Wohlhabenden. Die Preise für Apartments liegen im astronomischen Bereich.

Neues Land aus dem Meer gewonnen

Damit sich das Meer das neu gewonnene Land nicht zurückholt, wurde eine 8,5 Kilometer lange Schutzmauer aus Beton gebaut. Meereswissenschaftler wie Umweltschützer sind jedoch skeptisch, ob diese langfristig funktioniert. Wie gewaltig das Meer sein kann, zeigt sich seit Jahren an den Stränden von Lagos. Küstenerosion sorgt dafür, dass Landflächen immer mehr schrumpfen. Wer zu dicht am Wasser gebaut hat, dem kann bei einer Flut das ganze Haus weggerissen werden.

Fünfundzwanzig Kilometer weiter nordwestlich hat Bimbo Osobe ihren Besuch in Badia East beendet und mit vielen Menschen über die aktuellen Veränderungen gesprochen. Vor allem aber hat sie sich Klagen angehört, die sich seit Jahren gleichen. „Es hat weder eine Umsiedlung gegeben noch eine Entschädigung“, sagt sie. Auch seien die Zwangsräumungen nicht geschehen, um etwas zu schaffen, wovon alle profitieren könnten.

Mehrere Männer in einem improvisierten Friseursalon

Ein Stromanschluss? Fehlanzeige. Der Frisörsalon ist auf einen Generator angewiesen Foto: Katrin Gänsler

Man wolle die Lebensbedingungen der Menschen in dieser Gegend verbessern, sagte 2013 der damalige Kommissar für Wohnungsbau. Doch als Bimbo Osobe am Anfang des Viertels von Badia East stehenbleibt, blickt sie zuerst auf ein von der Sonne ausgebleichtes Plakat, das den Bau eines Großmarkts für Arzneimittel ankündigt, dann auf einen grauen Rohbau. Vor dem Eingangstor sitzt ein Polizist. Das Gebäude, in dem auch Wohnungen entstehen sollten, steht seit Jahren halb fertig herum. Es heißt, dass die Bewohner ein Vorkaufsrecht erhalten sollten. Von Apartments, die 30 Millionen Naira – umgerechnet 72.693 Euro – kosten sollten, ist die Rede. Eingezogen ist niemand, Wohnraum ist bisher nur zerstört worden.

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