Grundnahrungsmittel Hot Dog

Anatomie eines britischen Seebads: Die Berliner Fotografin Benita Suchodrev und ihr Fotoband „48 Stunden Blackpool“

Benita Suchodrev, „48 Hours Blackpool“ Foto: aus dem besprochenen Band

Von Brigitte Werneburg

Sie war nach Blackpool geflogen, um einen Bekannten, der dort arbeitete, zu porträtieren. Aber als die Fotografin Benita Suchodrev nach ihrer kurzen Stippvisite des britischen Seebads nach Hause kam, hatte sie das denkbar großartigste Porträt der englischen Küstenstadt an der Irischen See aufgenommen, eine Hommage aus Hunderten von Porträts all der Leute, die sich an einem Wochenende in Blackpool herumtreiben. Und die sind, da gibt es nichts zu deuteln, ziemlich speziell – auch und gerade weil sie ganz normale Alltagsmenschen sind. Durchschnitt, der einem aber hier, in der Stadt, in der Elvis noch immer lebt und Hot Dogs als Grundnahrungsmittel gelten, in Massen begegnet. Wo Quantität in Qualität umschlägt. In eine etwas bizarre Qualität, die Benita Suchodrev derart zwingend ins Bild setzte, dass daraus zu Recht ihre erste Buchveröffentlichung, der Bildband „48 Hours Blackpool“, resultierte.

Krasses Spektakel

Die in Russland geborene und mit 15 Jahren in die USA ausgewanderte Berliner Fotografin kommt in ihrer Bildsprache ohne jede Sensationslust aus, trotzdem sie im kontrastreichen Schwarzweiß ihrer Aufnahmen das krasse Spektakel von Blackpool herauszustellen sucht. Aber, wie sie selbst sagt: „Die Straße in eine Bühne zu verwandeln ist nicht dasselbe, wie einen Zoo daraus zu machen.“

Diese Versuchung liegt aber an einem Sommertag in Blackpool nahe: Hier werden die berühmt-berüchtigten ­JunggesellInnenabschiede gefeiert, die Leute tragen idiotische Kostüme und Vierjährige eine Spielzeugkalaschnikow. Benita Suchodrev lässt sich mit den Ausflüglern treiben, durch die Haupt- und Nebenstraßen, auf die Piers, in die Bingo-­Hallen. Das Meer kommt in ihren Aufnahmen nur am Rande vor, das erstaunt sie im Nachhinein selbst. Aber das Leben spielt sich eben nicht am Strand ab, weswegen sich, kommt er mal ins Bild, nur wenige Menschen auf ihm verlaufen und fast zwangsläufig ein romantisches Bild entsteht, auch wenn die monströse Stahlgabel eines Baufahrzeugs zentral ins Motiv stößt.

Am Strand versammeln sich auch die Kutscher und ihre Pferde, die die Touristen durch die Gegend fahren, und machen Pause. Entspannt und freundlich lächelnd sieht die Fotografin dort ein großes Mädchen zwischen seinen Pferden stehen, vor dem Hintergrund des Riesenrads, das es neuerdings wieder gibt. Das erste, 1886 zum Vergnügen der nordenglischen Arbeiterklasse gebaut, die Blackpool zu einer der Geburtsstätten des modernen Massentourismus machte, stand nur bis 1926.

1884 wurde der Blackpool Tow­er, eine Kopie des Eiffelturms, errichtet, der unvermeidlich immer wieder in den Bildern auftaucht. Aber nur einmal kommt er groß ins Bild, freilich geradezu einschüchternd dominiert von einer überdimensionalen Eiswaffel, dem Werbeemblem eines Eiswagens im Vordergrund. Das in seinem Ausschnitt perfekt ausbalancierte Foto überrascht mit einer surrealen Tiefenschärfe, man betrachtet es wie ein Im­pres­sionistengemälde, nicht wie eine dokumentarische Fotografie.

Suchodrev findet zu Bildern, die genaue Betrachtung herausfordern

Benita Suchodrev findet in ihrer Fotografie zu Bildern. Bildern, die einer langen und genauen Betrachtung nicht nur standhalten, sondern eine solche Betrachtung herausfordern. Sie macht nicht einfach interessante Aufnahmen. Und dabei fotografiert sie oft aus der Hüfte heraus, hebt die Kamera also nicht vors Auge, um durch den Sucher die Szene zu kontrollieren. Sie sagt, sie gehe ihre Motive frontal an, erkenne sie schnell und fotografiere sie noch schneller.

Das zeigt sich vor allem, wenn sie sich ganz auf die Menschen fokussiert, auf die aufgebrezelten Teenager und die nicht weniger aufgebrezelten Oldies. Auf die Kinder, wie sie verloren in der Gegend herumstehen. Vielleicht nur für einen kurzen Moment, bis die Eltern sie wieder einfangen. Aber dieser Moment offenbart, welcher Stress das Ausflugsvergnügen in Wahrheit für das Kind ist.

Der Stress für die Erwachsenen, der kommt dann mit der Nacht, ihrem Neonlicht und dem Alkohol, wofür Suchodrev auch hier überraschende Bilder findet, wie das verlorene weiße Männergesicht auf dem regennassen schwarzen Quadratmuster des vom Licht einer Straßenlaterne erhellten Pflasters. Aber in 48 Stunden gibt es mehr Tag als Nacht, und überhaupt schreibt Suchodrev in ihrer Einleitung: „Ich stelle fest, dass sich die dunkle Seite von Blackpool besser im Tageslicht zeigen lässt.“

Benita Suchodrev: „48 Hours Blackpool“. Kehrer Verlag, Heidelberg 2018. 160 S., 120 Duplexabbildungen, 39,90 Euro