Größter Kranichrastplatz Europas: Fluch und Segen zugleich

Zehntausende Zugvögel, Zehntausende Touristen: Im Dorf Linum im Brandenburgischen dreht sich in diesen Wochen alles um den alljährlichen Kranichzug.

Drei Leute schauen mit Ferngläsern nach Kranichen in Brandenburg

Ja, wo fliegen sie denn? In Linum zum Beispiel! Kranich-Fans bei ihrem Hobby Foto: dpa

„Entschuldigung“, ruft die Frau, die frühmorgens um acht mit ihrem Fahrrad eilig über den unebenen Seitenstreifen entlang der Linumer Dorfstraße klappert. Leicht schlingernd kommt sie schließlich vor dem gelb getünchten Haus mit der Nummer 54 zu stehen: der örtliche Stützpunkt des Naturschutzbundes Nabu, rund 45 Kilometer nordwestlich von Berlin. „Entschuldigung“, ruft die Frau, „wo finde ich denn hier die Kraniche?“ Sie deutet auf ihre Fotoausrüstung im Fahrradkorb. „Ich würde die nämlich gern fotografieren.“ Die Nabu-Mitarbeiterin weist ihr den Weg: Weiter die Dorfstraße runter, hinterm Ortsausgangsschild links halten.

Linum im Landkreis Ostprig­nitz-Ruppin hat etwa 700 Einwohner, ein typisches Brandenburger Straßendorf. An einem Werktag früh um 8 Uhr schiebt sich in so einem Dorf normalerweise der letzte Rest des Pendlerverkehrs nach Berlin in Richtung Autobahnauffahrt. Touristen fragen eher seltener nach dem Weg. In Linum – eine trutzige Backsteinkirche, ein düsteres Kriegerdenkmal, eine Dorfstraße – ist das anders. Die Frau mit ihrem Fotostativ auf dem Gepäckträger ist nur eine von rund 40.000 Touristen, die der Nabu hier im Schnitt pro Jahr zählt.

Der überwiegende Teil der Menschen kommt wegen eines etwa 1,20 Meter großen, grau gefiederten Vogels mit staksigen Beinen, storchenähnlichem Schnabel und seltsam buschigen Schwanzfedern, die ein bisschen an einen Staubwedel erinnern: der Graue Kranich – wissenschaftlicher Name: Grus grus –, einziger Vertreter der Familie der Kranichvögel in Europa.

Zehntausende dieser Zugvögel machen hier jedes Jahr im Herbst Rast. Sie kommen aus ihren Brutgebieten in Skandinavien und fressen sich auf den umliegenden Feldern Kraft für den Weg in die Überwinterungsquartiere in Spanien und Nordafrika an. 123.000 dieser Tiere habe man im bisherigen Rekordjahr 2014 gezählt, sagt Marion Szindlowski, die Leiterin des Nabu-Stützpunktes im Dorf.

Jeden Tag Zehntausende Vögel

Zwischen Mitte September und Anfang November rauschen dann jeden Tag Zehntausende dieser großen Vögel über das kleine Dorf, ihr trompetenartiges Rufen in der Luft lässt sie auch den staunenden Laien von ziehenden Wildgänsen unterscheiden. In der Morgendämmerung brechen sie auf, von ihren Schlafplätzen auf den Feuchtwiesen hinterm Dorf zu den abgeernteten Feldern in der Umgebung, wo sie nach Maisresten und kleinem Getier stochern. In der Abenddämmerung kommen sie wieder. Ein Schauspiel, sagt Szindlowski, bei dem auch sie noch immer wieder Gänsehaut bekomme.

Linum Rund um das Dorf im Landkreis Ostprignitz-Ruppin befindet sich im Herbst einer der größten Kranichrastplätze Mitteleuropas. Die Niedermoorlandschaft des Rhinluches ist quasi eine Tankstelle für die Zugvögel auf dem Weg in ihre südlichen Winterquartiere. Auf den abgeernteten Maisfeldern in der Um­gebung finden die Tiere viel Nahrung. Zugleich gibt es viele Feuchtwiesen. Zum Schutz vor Fressfeinden schlafen die Kraniche im knietiefen Wasser.

Die Kranichsaison des Nabu-Naturschutzzentrums geht noch bis Sonntag. Es gibt Führungen zum abendlichen Ausflug und morgendlichen Einflug der Kraniche. Genaue Uhrzeit erfragen, telefonische Anmeldung erforderlich: (03 39 22) 5 05 00. Die Biologin und Kranichexpertin Kristina Hühn bietet ebenfalls Führungen an: www.kraniche-linum.de. (taz)

Es ist dieses Schauspiel, das auch die Touristen wollen, die das kleine Dorf besuchen – manche der EinwohnerInnen würden wohl sagen: heimsuchen. Für die Linumer ist das herbstliche Spektakel Fluch und Segen zugleich.

Marion Szindlowski hat ihren Geländewagen direkt am Feldrand geparkt. Ein paar hundert Meter hinter der Dorfkirche wächst auf dem Acker das Wintergetreide, im Hintergrund rauscht die Autobahn in Richtung Berlin. Durch ihr Fernglas schaut die Leiterin des Linumer Nabu-Stützpunktes einer Gruppe von Kranichen entgegen: Die majestätischen Vögel fliegen auf sie zu, schwenken im Keil nach rechts und verschwinden schließlich leise rufend hinter einer Baumreihe im unerhört kitschigen Sonnenaufgang.

Szindlowski lässt das Fernglas sinken und erzählt, was die Menschen hier früher geglaubt hätten, nämlich dass die Kraniche im Herbst die kleinen Singvögel unter ihrem Gefieder gen Süden getragen hätten. „Die jungen Kraniche haben so ein ganz eigenes Fiepsen, das haben die Leute früher für den Gesang der Singvögel gehalten.“ Der Kranich, sagt sie, „hat die Menschen eben schon immer fasziniert.“

Elf Teams von ZählerInnen

Jeden Dienstagmorgen zwischen Mitte September und Anfang November zählen Szindlowski und ihr Team gemeinsam mit ehrenamtlichen HelferInnen des Landschaftsfördervereins Oberes Rhinluch und MitarbeiterInnen der benachbarten Naturschutzstation Rhinluch des Landesamts für Umwelt die Kraniche. Szindlowski deutet auf ein markantes weißes Haus zu ihrer Linken: „Von da bis rechts rüber zur Kirche, das ist unser Sektor. Alles, was da reinfliegt, zählen wir.“ Insgesamt elf Teams von ZählerInnen umstellen die Feuchtwiesen, auf denen die Tiere sich nachts zum Schlafen sammeln und von denen sie im Morgengrauen in Schüben zu den bis zu 30 Kilometer entfernten Futterplätzen ausfliegen.

Szindlowski hat Thermos­kannen dabei, doch heißen Tee braucht heute morgen niemand: Dafür, dass es beinahe November ist, ist es ungewöhnlich mild. Dieser ganze Sommer sei ja sehr heiß gewesen, sagt Szindlowski. Für die Kraniche bedeute das nun weniger Futter, weil es durch die Trockenheit ein schlechtes Mais-Jahr gewesen sei. „Weniger Kraniche haben wir deshalb aber nicht gezählt, offenbar finden sie noch genug Nahrung.“

Mahlzeit: Kraniche auf einem abgeernteten Maisfeld in Brandenburg Foto: Bernd Settnik/dpa/picture alliance

Aus dem Morgen wird ein sonniger Vormittag. Über eine Viertelstunde ist es her, dass der letzte Schwung Langschläfer vorübergeflogen ist. Offenbar sind jetzt alle Kraniche beim Frühstück draußen auf den Stoppelfeldern. „Packen wir zusammen“, sagt Szindlowski.

In der Naturschutzstation im Ort treffen sich die ZählerInnen, auf dem Tisch zwischen ihnen: halbe Salami­brötchen, Filterkaffee – und ein überdimensionierter Taschenrechner, auf den alle gebannt schauen. 30.890 spuckt der schließlich aus, so viele Kraniche haben die elf Teams an diesem letzten Dienstag im Oktober gezählt, minus zehn Prozent Fehlerquote eingerechnet. Mitte des Monats waren es noch rund 74.500 Vögel – ein Großteil dieser Tiere habe inzwischen auf ihrem Weg nach Süden Frankreich erreicht, sagt Szindlowski. Die Kranichsaison in Linum neigt sich dem Ende entgegen.

Zwischen Landwirtschaft und Tourismus

Vor zwei, drei Jahren noch sei dann immer ein großes Aufatmen durchs Dorf gegangen, sagt Kristina Hühn. Die Biologin hat über das Dorf und seine Kraniche promoviert. Der Titel ihrer im vergangenen Jahr an der Humboldt-Universität erschienenen Dissertation: „Kraniche zwischen Landwirtschaft und Tourismus“, eine Konfliktanalyse.

Der Graue Kranich (lat. Grus Grus) wird im Bundesnaturschutzgesetz als besonders geschützte Art eingestuft. In den 1970er Jahren war er hierzulande fast ausgestorben. Seitdem wurden zahlreiche Schutzgebiete ausgewiesen, Feuchtgebiete renaturiert, die Kranichjagd europaweit verboten. Aktuell ist er nicht mehr gefährdet. Insgesamt wird die Population auf 300.000 Brutpaare geschätzt. In Linum setzt sich der Nabu für die Ausweisung eines Kranichschutzgebietes ein. (taz)

Ursprünglich wollte Hühn, die für ihre Promotion mehrere Jahre in Linum verbrachte, wissen: Haben die Landwirte eigentlich ein Problem mit den Massen von Kranichen, die auf ihren Feldern fressen – und dabei mitunter auch an das frisch ausgesäte Wintergetreide gehen? Hühn sagt: „Die Kraniche sind für die Landwirte nicht das große Thema.“ Die Linumer Bauern lassen im Herbst viele abgeerntete Felder eine Weile brach liegen, bevor sie diese umpflügen. Stoppelfelder mögen die Kraniche viel lieber als frische Saat. Mensch und Kranich haben sich arrangiert. „Das Problem“, sagt Hühn, „waren vielmehr die Touristen.“

An den Wochenenden, sagt die Biologin, hätten sich geradezu dramatische Szenen in dem kleinen Dorf abgespielt. Die BesucherInnen parkten die Dorfstraße und Feldwege dermaßen zu, dass die Landwirte mit ihren Traktoren nicht mehr auf ihre Äcker kamen. Orientierungslose Kranichtouristen auf der Suche nach den Objekten ihrer Begierde machten die Dorfstraße zur Fußgängerzone und nervten die AnwohnerInnen. Auf der nahen Autobahn herrschte Chaos auf dem Standstreifen, weil manche einfach anhielten und aus dem Autofenster heraus die Vögel auf den Feldern knipsten.

Hühn stellte gemeinsam mit der Naturschutzstation Rhinluch Infotafeln im Ort und auf den Feldern auf: Auf den Karten ist markiert, an welchen Stellen man die Vögel am besten beobachten kann – und wie man vermeidet, sie unnötig aufzuscheuchen. Es gibt nun Busparkplätze und eine Art Parkleitsystem. Die ganze Dorfstraße runter gilt inzwischen ein absolutes Halteverbot.Seitdem habe sich viel entspannt, sagt auch Georg Rixmann. Der Landwirt betreibt einen Hofladen im Ort, wo er Obst und Gemüse verkauft, vor allem Kürbisse, und Selbstgemachtes: Marmeladen, Liköre und Öle. Neben Rixmanns Bauernladen gibt es noch zwei weitere Hofläden. Es gibt, bei 700 EinwohnerInnen, außerdem eine Imkerei in Linum, einen Bäcker, einen Fischladen – und vier Cafés und Gaststätten.

„Wirkliches Tourismuskonzept“ fehlt

„Natürlich ist der Kranich auch gut fürs Geschäft hier“, sagt Rixmann, der auch schon mal mehreren Busladungen JapanerInnen durch den Ort und zu den Kranichen geholfen hat. Die Bauern im Dorf, glaubt er, könnten sogar noch viel mehr vom Kranich profitieren – wenn man nur endlich ein „wirkliches Tourismuskonzept“ entwickeln würde. Die Halteverbotszonen etwa seien schlecht für sein Geschäft, weil die Kürbis-KundInnen nun nicht mehr wüssten, wo sie parken sollen.

Auch Hühn sagt: „Es bräuchte jemanden, der sich hauptberuflich um ein solches Konzept kümmert und alle Beteiligten an einen Tisch bringt – Naturschutz, Einwohner, Tourismusbehörde.“ Sie will für ihre Idee werben, und hofft dabei auch auf Unterstützung durch Naturschutzbehörde und Nabu. Wenn man die Besucherströme nur richtig betreut und lenkt, glaubt Hühn, dann kann man den Kranichtourismus in Linum auch noch weiter ausbauen.

Denn was die meisten Menschen nicht bedenken würden, sagt Hühn: Der Kranich hasse es, gestört zu werden. „Eigentlich mag er den Menschen nicht.“

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