Soziologin über Industrie 4.0: „Eine erfolgreiche Werbekampagne“

Mit der Botschaft „Industrie 4.0“ wird suggeriert, dass die digitale Revolution die Arbeitswelt grundlegend verändert, sagt die Soziologin Nicole Mayer-Ahuja.

Ein Arbeiter mit einem Tablet in einer Fabrikhalle

Ein Mitarbeiter der Robert Bosch GmbH überprüft mit einem Tablet die Betriebsdaten von vernetzten Maschinen Foto: dpa

taz: Frau Mayer-Ahuja, in der Industrie reden gerade alle von der Industrie 4.0, der digitalen Vernetzung von Menschen und Maschinen. Sie halten das für einen Kampfbegriff – warum?

Nicole Mayer-Ahuja: Kampfbegriff ist vielleicht ein bisschen zugespitzt, aber die Erzählung von der Industrie 4.0 ist schon eine überaus erfolgreiche Werbekampagne. Die Industrie hat sie 2011 auf der Hannover Messe mit der klaren Botschaft gestartet, dass sie staatliche Unterstützung braucht, um international wettbewerbsfähig zu bleiben. Wir waren sehr beeindruckt davon, wie es der Industrie gelungen ist, den Begriff in der Presse zu lancieren und alle möglichen Forschungsprogramme zu initiieren. Sie hat vermittelt, hier passiere etwas so grundlegend Neues, dass man von einer „Vierten Industriellen Revolution“ sprechen muss: Dafür steht Industrie 4.0.

Die digitale Vernetzung von Menschen und Maschinen ist nicht revolutionär neu?

Natürlich haben wir tiefgreifende technologische Veränderungen in vielen Unternehmen. Sie gehen aber keineswegs so weit, dass sich die Arbeitswelt ganz grundlegend verändern würde. Erste empirische Befunde zeigen, dass interessante Experimente mit neuen Technologien laufen – diese sind jedoch teilweise weniger wichtig als organisatorische Neujustierungen, und sie prägen vielerorts nicht das Gesamtbild des Unternehmens – ganz zu schweigen von der Arbeitswelt insgesamt. Abgesehen davon können wir die Tragweite der Veränderungen gegenwärtig noch gar nicht ermessen. Das ist mitten im Geschehen auch schwierig. Als im 18. Jahrhundert die Dampfmaschine die erste industrielle Revolution einleitete, haben das die Zeitgenossen wohl kaum verstanden. Wie revolutionär diese Technik war, ist erst im Rückblick verständlich geworden.

Was stört Sie denn an dem Begriff „Industrie 4.0“?

Er ist irreführend, weil er nahelegt, dass in der Arbeitswelt kein Stein auf dem anderen bleibt. Manche behaupten, durch Digitalisierung gehe die Hälfte aller Arbeitsplätze verloren. Wieder einmal wird die menschenleere Fabrik vorhergesagt, weil künftig Maschinen die Prozesse steuern. Das ist nicht realistisch. Sicher gibt es Veränderungen: In neuen Warenwirtschaftssystemen meldet das Regal, wenn es aufgefüllt werden will; Arbeiter empfangen Anweisungen über Datenbrillen; Leichtbauroboter werden günstiger, leichter und beweglicher, so können sie Tätigkeiten ausführen, die man ihnen früher nicht hätte übertragen können. Aber all das führt nicht dazu, dass niemand mehr in diesen Fabriken arbeitet. Wir sehen das doch schon heute in den Automobilfabriken: Dort arbeiten zwar weniger Menschen als früher, aber es arbeiten dort noch Menschen. Statt nur auf das technologisch Machbare zu schauen, müssen wir viel mehr diskutieren, wie Arbeit künftig verteilt und organisiert werden soll.

ist Direktorin des Soziologischen Forschungsinstituts (SOFI) an der Universität Göttingen. Dort ist sie Professorin für Soziologie mit den Schwerpunkten Arbeit, Unternehmen, Wirtschaft

Gehört das nicht zusammen?

Der Blickwinkel ist ein anderer. Wir müssen diskutieren, inwiefern technologische Entwicklungen eine neue Qualität von Arbeit schaffen. Der Einschnitt ist nicht die Datenbrille, sondern die Computerisierung. Teilweise verstärken neue Technologien schlicht Veränderungstendenzen, die wir seit Langem beobachten. Natürlich erleichtert es die Flexibilisierung von Arbeitszeiten, wenn man IT-Erzählung von der Industrie 4.0 istbasiert auf Firmenserver zugreifen kann, aber der Grundimpuls der Veränderung kommt nicht aus der Technik, sondern aus dem Wunsch der Unternehmen, sich flexibler an Auftragslagen anzupassen. Wenn wir immer nur die Technikseite betonen, entsteht ein Gefühl der Ohnmacht. „Die Digitalisierung“ kommt wie eine Naturgewalt über uns – man bekommt das Gefühl, den technologischen Entwicklungen ausgeliefert zu sein.

Die Entwicklung schreitet voran, da müssen wir uns anpassen?

Genau. So ist es eben nicht. Wir müssen über Technikgestaltung diskutieren. Wie werden die neuen Technologien in Arbeitsabläufe eingebunden? Was heißen sie konkret für den Arbeitsalltag, wie kann man die Technik sinnvoll für Menschen einsetzen? Die Antwort auf diese Fragen hat mehr mit Machtverhältnissen in den Unternehmen zu tun als mit technologischer Machbarkeit.

Wie lässt sich sicherstellen, dass in einer digitalisierten Fabrik nicht die Maschinen den Takt vorgeben?

Wenn eine neue Maschine ins Werk kommt, wird um sie herum organisatorisch umgebaut. Das bisherige implizite Wissen, die Erfahrung ist auf einmal weniger Wert. In einer Fabrik ist es ja so: Wenn ein Problem auftaucht, interessiert die ArbeiterInnen nicht, was im Organigramm steht. Sie wenden sich an denjenigen, der sich auskennt. Wenn neue Maschinen kommen, wird das in Frage gestellt. Ältere Kollegen machen dann teilweise die Erfahrung, dass ihr Wissen entwertet wird. Teilweise kann man das durch Weiterbildung auffangen. Allerdings investieren die Unternehmen seit Jahren weniger in Weiterbildung, sogar die Meisterausbildung bezahlen viele Beschäftigte inzwischen selbst. Weiterbildung ist so eine zentrale Frage, aber sie wird oft privatisiert.

Sind Gewerkschaften oder Betriebsräte in der Lage, die Arbeitsplätze in der vernetzten Welt mitzugestalten?

Na ja, die IG Metall zum Beispiel ist bei den Autobauern gut organisiert und entsprechend einflussreich. Aber in vielen Bereichen, wo auf digitaler Basis neue Geschäftsmodelle entstehen, gilt das nicht. Lieferando, Uber, Airbnb oder Logistikunternehmen, die selbstständige Fahrer anheuern, ticken anders. Dort gibt es teilweise gar keine Arbeitsverträge und keine betriebliche Organisation. Gewerkschaften haben es da schwer.

Die bisherigen Entwicklungen legen nahe, dass sich die Belegschaften polarisieren – in diejenigen, die von der Digitalisierung profitieren und diejenigen, die abgehängt werden. Was bedeutet das für die Belegschaft?

Das ist ja kein unbekanntes Phänomen. Eine Studie am Soziologischen Forschungsinstitut an der Uni Göttingen hat schon in den 80er Jahren belegt, dass technische Rationalisierung sehr unterschiedliche Folgen für Beschäftigte haben kann: Es gab Rationalisierungsgewinner, deren Arbeit interessanter wurde. Die Rationalisierungsdulder versuchten, die neuen Regeln und Abläufe irgendwie unbeschadet zu überstehen. Und es gab Rationalisierungsverlierer, die zum Teil ihre Arbeitsplätze verloren. Oder sie wurden betrieblich abgewertet, mussten stärker standardisierte und engmaschiger kontrollierte Arbeiten erledigen. Das könnte jetzt wieder passieren.

Wie gehen die Betriebe damit um?

Die Rekrutierungspraxis scheint sich zu ändern. Es werden Menschen mit höherer formaler Bildung eingestellt. Weil immer mehr Leute Abitur machen, ist dieser Abschluss immer weniger wert – man spricht von Zertifikate-Inflation. Selbst in großen Industriebetrieben berichten JugendvertreterInnen, dass kaum noch Auszubildende mit Haupt- oder Realschulabschluss eingestellt werden. Das ist doch Wahnsinn, wenn solche Schulabschlüsse nicht mehr reichen, um im industriellen Bereich einen Ausbildungsplatz zu bekommen.

Wie passt das zusammen mit den Klagen über einen Mangel an Fachkräften und Auszubildenden?

Diese Diskussion ist verlogen. Fachkräftemangel heißt, es gibt zu wenig Leute mit genau den Qualifikationen und sozialen Eigenschaften, die ich brauche. Wenn HauptschülerInnen diese Eigenschaften heute nicht mitbringen, dann müssen wir die Hauptschule verändern. Und in vielen Bereichen könnte Fachkräftemangel reduziert werden, indem man Arbeitsbedingungen und Vergütung attraktiver macht.

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