Kommentar Familienbesuch in Nordkorea: Die Bevölkerung als Geisel

Kim Jong-Un lässt Familienbesuche von Südkoreanern zu und alle sind gerührt. Nüchtern betrachtet zeigen sie aber nur die Brutalität seines Regimes

Familienmitglieder aus Südkorea treffen in Nordkorea ihre Verwandten

Lottogewinn Familienbesuch: Zufalls-Algorithmen haben 89 aus 57.000 Bewerber*innen ausgewählt Foto: reuters

Es sind Fernsehbilder, die am Montag ganz Südkorea gerührt haben: Wenn etwa der 101-jährige Baek Seong Gyu im Rollstuhl zum ersten Mal auf seine Enkeltochter aus Nordkorea trifft – und stolz von seinen mitgebrachten Geschenken für seine lange vermissten Verwandten spricht: „Ich habe extra viel mitgebracht, schließlich sehen wir uns zum letzten Mal.“

Dabei sollte man sich von den Freudentränen nicht blenden lassen: Nüchtern betrachtet sind jene Familienzusammenführungen, die nun seit über drei Jahren zum ersten Mal stattfinden, vor allem tragisch. Für die meisten kommen sie zu spät: Von insgesamt 130.000 Bewerbern aus dem Jahr 2000 sind gerade einmal 57.000 noch am Leben. Das Gros von ihnen wird sterben, ehe es sich noch ein letztes Mal von ihren Familienmitgliedern im Norden verabschieden kann.

Selbst für die 89 vom Computeralgorithmus ausgelosten Südkoreaner behalten die gestern begonnenen Familienzusammenführungen im nordkoreanischen Diamantengebirge Enttäuschungen bereit: Aufdringliche TV-Teams und omnipräsente Aufpasser des nordkoreanischen Regimes erschweren familiäre Intimität. Teilnehmer von früheren Zusammenführungen berichten von schmerzhaften Erfahrungen der Entfremdung, nachdem ihre Verwandten während der Gespräche ständig ihren „geliebten Führer Kim Jong Un“ gepriesen haben.

Ob sie die Wahrheit über ihr Leben in Nordkorea erzählen oder aus politischem Druck ein geschöntes Bild zeichnen? Ihre südkoreanischen Angehörigen werden es wohl nie erfahren.

Insofern rufen die Treffen vor allem die Unmenschlichkeit des nordkoreanischen Systems in Erinnerung: Das Regime in Pjöngjang schottet seine Bevölkerung systematisch von der Außenwelt ab, zudem verhindert es auch das Zustandekommen regelmäßiger Familienzusammenführungen – weil es sie stets an Vorbedingungen geknüpft hat. Die vom Koreakrieg getrennten Familien waren für die Kim-Familie zuallererst politische Geiseln.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Seit 2019 China-Korrespondent mit Sitz in Peking. Arbeitete zuvor fünf Jahre lang als freier Journalist für deutschsprachige Medien in Seoul, Südkorea. 2015 folgte die erste Buchveröffentlichung "So etwas wie Glück" (erschienen im Rowohlt Verlag), das die Fluchtgeschichte der Nordkoreanerin Choi Yeong Ok nacherzählt. Geboren in Berlin, Studium in Wien, Shanghai und Seoul.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.