Berlin und die EM: Die neue Liebe zur Leichtathletik

Die EM hat die oft wenig beachtete Sportart erfolgreich ins Rampenlicht gerückt. Für die Zukunft der Berliner Leichtathletik verheißt das Gutes.

Die Sprinterin Lisa Marie Kwayie, EM-Medaillengewinnerin aus Berlin Foto: dpa

BERLIN taz | Manchmal, in den langen Wettkampfpausen am Nachmittag, gab es Momente, wo man das Olympiastadion fast ganz für sich allein hatte. Zumindest allein genug, um die Stille zu bestaunen. Und den Organisationsgrad.

Hunderte Männer und Frauen, die wie automatisiert über den Rasen eilten, Markierungsbänder zogen, Lautsprecher schoben, gigantische Skelette von Stabhochsprunganlagen errichteten, Kabel verlegten, Matten und Bänke zerrten – und das alles abgestimmt, alles in einem stummen Takt, vor 75.000 verwaisten grauen Sitzschalen. So eine Art Heinzelmännchen Live Act.

„Wir brauchen keine Veränderung der Leichtathletik, wir brauchen einen kompakten Zeitplan“, sagte Chef-Organisator Frank Kowalski nach Abschluss der Leichtathletik-Europameisterschaft am Sonntag. Drei, gelegentlich vier Disziplinen parallel in engem Takt und ein Moderatorenteam, das sanft bestimmend von Höhepunkt zu Höhepunkt lenkte. Zusammen mit den erstmals direkt in der Stadt stattfindenden Veranstaltungen war das alter Sport in neuem Speckmantel verpackt – und das ging, dieses Entertainment.

Vielleicht wird man über diese EM einmal sagen: Das war der Punkt, wo die Leichtathletik in Deutschland in die Gesellschaft zurückfand. Wer künftig eine EM austrägt, wird jedenfalls schauen, wie sie das in Berlin gemacht haben.

Nur Angela Merkel fehlte

Nach Angaben der Veranstalter kamen an den sieben Tagen insgesamt rund 360.000 Zuschauer ins Olympiastadion. Svein Arne Hansen, Präsident des Europäischen Leichtathletik-Verbands, bedankte sich gefühlsschwanger für die „besten Europameisterschaften aller Zeiten“. Natürlich ist das nicht nur den Innovationen geschuldet, sondern auch der Tatsache, dass sich Leichtathletik in Berlin sowieso gut verkaufen lässt.

Am Format funktionierte zwar nicht alles. Ausgerechnet die als so revolutionär gepriesene Technik enttäuschte: Es gab kuriose Fehlmessungen beim Weitsprung, verspätete und intransparente Aberkennung beim Diskus.

Die Daten Die Leichtathletik-EM fand vom 6. bis 12. August im Olympiastadion statt. Erstmals wurden außerdem Live-Übertragungen und Siegerehrungen auf den Breitscheidplatz verlegt. Im Olympiastadion sollen insgesamt 360.000 Besucher gewesen sein.Inklusive der Siegerehrungen und Straßenwettkämpfe waren es laut Veranstalter rund 500.000.

Die Medaillen Die deutschen AthletInnen haben bei der EM 19 Medaillen errungen, sechsmal Gold, siebenmal Silber und sechsmal Bronze. An Berliner SportlerInnen ging eine Medaille: Lisa Kwayie holte mit der 4-x-100-m-Staffel Bronze. Es ist das beste deutsche EM-Ergebnis seit 1998. Deutschland belegt damit den zweiten Platz hinter Großbritannien, Dritter wurde Polen. (asc)

Dass Angela Merkel, die so gern auf Fußballtribünen hopst, die Heim-EM nicht mal mit einer Videobotschaft, geschweige denn mit ihrer Anwesenheit beehrte, war auch ein deutlicher Hinweis. Die EM fühlte sich trotzdem zumeist nach Wiederbelebung an.

Es war spannend, dieses Stadion ganz ohne Fußball zu erleben, weil der Sport ganz anders wirkte. Kein dauerhafter Gesang, nur rhythmisches Anklatschen, ein donnerndes Crescendo-Raunen während der Sprints, ein kollektiver Schrei bei Erfolgen, und, besonders schön, das erschrockene, aber auch etwas beiläufige kollektive „Oh“, wenn jemand die Latte riss oder stürzte. Beim Fußball, wo vor allem ekstatisch gebrüllt wird, ist kein Platz für dieses kleine „Oh“.

Neun Sportler aus Berlin

Neun Berliner AthletInnen gehörten dem insgesamt 128-köpfigen deutschen EM-Team an, mehr als aus jedem anderen Ort in Deutschland. In der Breite ist die Berliner Leichtathletik gut aufgestellt. Auf Top-Niveau aber wird es schon deutlich dünner. Viele AthletInnen waren ohnehin eher aus der zweiten bis dritten Reihe, und die Hoffnungsträger hatten viel Pech.

Diskus-Olympiasieger Christoph Harting scheiterte mit drei Fehlwürfen kurios schon in der Qualifikation. Lucas Jakubczyk, mit der 4-x-100-m-Staffel ein Medaillenkandidat, stürzte beim Rennen schwer. Mit dem Abschied von Robert Harting hat die Berliner Leichtathletik ihr prägendes Gesicht verloren, und auch Jakubczyk ist schon 33 Jahre alt. Ein Umbruch ist zwangsläufig.

Von den 19 deutschen Medaillen ging nur eine nach Berlin: Die 21-jährige Sprinterin Lisa Kwayie holte mit der 4-x-100-m-Staffel die Bronzemedaille. Sie hielt stark mit, sie könnte so eine für die Zukunft sein. Wie auch 400-m-Läufer Marc Koch und Hochspringerin Jossie Graumann, die nach Verletzungen nicht rechtzeitig fit für die EM wurden.

Bodenständig brötchenkauende Athleten

Was blieb sonst? Vor allem die Bodenständigkeit und Entspanntheit. Athleten, die einander unaufgesetzt zu Bestleistungen gratulierten; Fans, die auch ausländische Sportler bejubelten; Polen und Deutsche, die gut gelaunt miteinander S-Bahn fuhren, ohne sich anzupöbeln oder gar die Köpfe einzuschlagen. Zugängliche Stars, hilfsbereite Medienbeauftragte. Ordner, die inbrünstig über die Presse lästerten, cholerische Reisegruppenführer, Trainer, die mit der S-Bahn anreisten, Athleten brötchenkauend auf dem Nebensitz.

Es ist reizvoll, all das zu verklären. Doping, Druck, Korruption: Dass die Leichtathletik nicht heilig ist, vergaß mancher. In Berlin bat sie vorerst höflich um ein bisschen Liebe. Und die hat sie bekommen.

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