Debatte Brexit: Charme der zweiten Wahl

Es sollte ein zweites Referendum über den EU-Austritt geben. Aber mit einem neuen Verfahren, bei dem die Abstimmenden Noten verteilen.

Ein Mann vor einer Weggabelung im Wald

Ein zweites Brexit-Referendum dürfte keine simple Ja/Nein-Frage sein Foto: Vladislav Babienko/Unsplash

Eine aktuelle Umfrage in Großbritannien zeigt: Zum ersten Mal unterstützt eine relative Mehrheit der Briten ein zweites Referendum zum EU-Austritt. Die Zahlen sind zwar noch nicht berauschend, die das renommierte YouGov-Institut erhoben hat: 42 Prozent wollen eine zweite Abstimmung, 40 Prozent sind dagegen, und der Rest ist unentschieden. Aber diese Umfrage zeigt doch, dass die Heilsversprechen der „Leave“-Kampagne an Glanz verlieren und eine realistischere Skepsis einkehrt.

Gleichzeitig könnte es schlimmer kommen als gedacht: Es ist gut möglich, dass die Austrittsverhandlungen wegen der Schwäche der Regierung May zu gar keinem Ergebnis führen, man also in einen „harten“ Brexit hineinstolpert und das Vereinigte Königreich für die EU zu einem beliebigen Drittland wird. Die regierende Tory-Partei ist so zerstritten, dass dieser Extremfall sogar zunehmend wahrscheinlich wird.

Diese interne politische Blockade war nicht vorhersehbar, als das erste Brexit-Referendum im Juni 2016 abgehalten wurde. Deshalb sollte den BürgerInnen jetzt durch eine zweite Abstimmung die Letztentscheidung überlassen werden.

Angesichts der Komplexität der Frage wäre es angemessen, in einem zweiten Referendum nicht zwei, sondern drei Optionen anzubieten. Die Erste wäre „Remain“, also der Verbleib in der EU mit allen Rechten und Pflichten. Brüssel hat London einen solchen Rücktritt vom Austritt mehrfach angeboten. Eine zweite Option wäre der harte Brexit, einschließlich einer dann notwendig streng kontrollierten inner-irischen Grenze. Und die dritte Variante wäre ein Kompromiss, auf den sich das Vereinigte Königreich und die EU einigen konnten. Sollte keine Einigung zustande kommen, weil die Querelen in Westminster nicht enden, könnte in dem Referendum nach einer EWR-Lösung wie in Norwegen gefragt werden.

Welches Verfahren wäre angemessen?

Norwegen ist ein Fall, der der Lage in Großbritannien nicht unähnlich ist. In zwei Volksabstimmungen haben die Norweger einen EU-Beitritt jeweils knapp abgelehnt. Stattdessen wurde das Land via Mitgliedschaft im Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) in den Binnenmarkt integriert, so wie auch Island und Liechtenstein und mit Abstrichen die Schweiz. Wie in der EU gelten also auch in Norwegen die Grundfreiheiten für Waren, Dienstleistungen, Kapital und Personen; Norwegen muss zudem Beiträge zahlen und EU-Regelungen übernehmen. Ausgeschlossen sind aber andere wichtige Bereiche wie Landwirtschaft und Fischerei.

Wenn über drei Optionen abgestimmt werden soll, ist zunächst zu klären, welches Verfahren angemessen wäre. Trotz der weitreichenden Beliebtheit bei grünen und sozialdemokratischen Urwahlen wäre es das Dümmste, eine relative Mehrheit bereits als ausreichend anzusehen. Wenn bei einem zweiten Brexit-Referendum beispielsweise Werte von 34, 33 und 33 Prozent herauskämen, dann könnte keine Position glaubhaft behaupten, eine wirkliche Mehrheit zu repräsentieren.

Für die diversen Brexit-Optionen würde es die Noten „Sehr gut“, „Gut“ oder „Noch akzeptabel“ geben

Die zweitschlechteste Lösung wäre, ein zweistufiges Verfahren anzusetzen, wo die beiden erstplatzierten Vorschläge in einer Folgerunde gegeneinander antreten. Diese Variante wird zwar in der Praxis oft angewandt, etwa bei französischen Parlamentswahlen, aber auch hier werden die Zweitpräferenzen negiert. Doch gerade die zweite Priorität der Befragten könnte oft eine klare Mehrheit ermöglichen.

Diese Konstellation ist nicht ungewöhnlich. Bei einem zweiten Brexit-Referendum wäre durchaus denkbar, dass „Verbleib“ und „harter Brexit“ die beiden meistgenannten Optionen sind, beide aber die 50-Prozent-Hürde deutlich verfehlen. Zugleich könnten die Harter-Austritt-Befürworter, wenn sie für ihre eigene Position keine Mehrheit sehen, vielleicht mit der norwegischen Lösung ­leben, da man ja immerhin kein EU-Mitglied mehr wäre. Umgekehrt würde wohl auch die „Remain“-Fraktion gern wenigstens einen Fuß im Binnenmarkt behalten wollen. Eine Stichwahl würde aber diesen eventuell mehrheitsfähigen Kompromiss durch Nichtzulassung ignorieren.

Abstimmen mit Schulnoten

Die Wissenschaft hat eine Reihe von Verfahren entwickelt, wie der eigentliche Mehrheitswille besser abgebildet werden kann: Gemeinsam ist allen Konzepten, dass auch die Folgepräferenzen der Abstimmenden berücksichtigt werden. Besonders ein Vorschlag ist sehr passend, um die drei Referendum-Optionen mit hoher Legitimität zu entscheiden: Jede der drei Varianten würde wie mit einer Schulnote bewertet; die Abstimmenden müssten also zwischen „Sehr gut“, „Gut“ und „Noch akzeptabel“ wählen. Wenn Bürger eine Option gänzlich ablehnen, würde sie gar nicht bewertet – und wäre damit durchgefallen.

Bei der Auszählung werden zunächst nur die Erstpräferenzen, also die „Sehr guts“ betrachtet. Gibt es hier eine absolute Mehrheit, ist das Ver­fahren bereits beendet und ein Sieger gefunden. Gibt es sogar mehrere absolute Mehrheiten, was theoretisch möglich wäre, gewinnt die Option mit den meisten Nennungen. Wahrschein­licher ist jedoch, dass noch eine zweite Runde ausgezählt werden muss. Dann lautet die Frage: Wie viele Stimmen hat jede Option, wenn die Noten „Sehr gut“ und „Gut“ zusammengezählt werden? Sollte es auch hierbei noch keine absolute Mehrheit ­geben, muss eine dritte Runde ausgezählt werden, die dann auch die Note „Noch akzeptabel“ berücksichtigt.

Gesetzlich benötigt ein zweites Brexit-Referendum nur einen einfachen Parlamentsbeschluss. Wie die Abstimmung ausgehen würde, ist natürlich offen. Aber YouGov hat Ende Juli auch gefragt, wie man, wenn es denn zu einem Referendum käme, sich entscheiden würde. 45 Prozent der Befragten würden für einen „Verbleib“ stimmen, 42 Prozent für einen „Austritt“. Das lässt doch hoffen, dass sich demokratische Prozesse auch selbstkritisch gestalten lassen und Fehlerkorrekturen möglich sind.

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ist Professor und leitet die Abteilung für Sozial- und Bildungs­ökonomik der Europa-Universität Flensburg. Letzte Publikation: „Der Super-Euro-Finanzminister. Die Sehnsucht nach einem guten Fürsten“, Blätter für deutsche und internationale Politik,Mai 2018.

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