Die Wahrheit: Eine Delikatesse als Ausreißer

Die lustige Tierwelt und ihre ernste Erforschung (58): Austern, Miesmuscheln, Muschelwächter und mitreißende Strömungen.

Ein Mann im weißen Schutzanzug hält einen Wassersprüher gegen eine Stahlwand, an der Austern kleben

Im trockengelegten Sperrwerk Büsum an der Nordsee werden Austern vom Stahl gesprüht Foto: dpa

Der Biogeograf Karl August Möbius begutachtete die Austernbänke an den deutschen Küsten, er sollte herausfinden, ob man dort, wie an der französischen Westküste, künstliche Austernzuchten anlegen könnte – was er verneinte: Die dazu notwendigen Untergründe reichten gerade für die wenigen bereits vorhandenen Populationen. In seiner Schrift „Austern und Austernwirtschaft“ (1877) gebrauchte er erstmalig das Wort „Biozönose“ für „eine Auswahl und Zahl von Arten und Individuen, welche sich gegenseitig bedingen und durch Fortpflanzung in einem abgemessenen Gebiet dauernd erhalten“. Die von ihm untersuchten Austern sind inzwischen ausgerottet.

In der Nordsee breitet sich dafür die Pazifische Auster aus. Ursprünglich wurde sie in Aquakulturen in den Niederlanden und auf Sylt als Ersatz gezüchtet. Die Larven rissen jedoch aus und verteilten sich mit der Strömung. „1998 haben wir im Niedersächsischen Wattenmeer zwei Austern gefunden. 2003 waren es schon rund 60.000. Schätzungen zufolge gibt es inzwischen mehrere 100 Millionen Austern“, berichtete Achim Wehrmann vom Senckenberg-Institut in Wilhelmshaven.

Zwar gilt die Pazifische Auster als Delikatesse, aber bisher darf sie noch nicht gefischt werden. Und da sie nicht nur an Steinen und Hafenmauern siedelt, sondern auch auf Miesmuscheln – wird sie zu deren Verhängnis. „Wenn das so weiterläuft, wird es für uns eng“, meint der Miesmuschelfischer Wolfgang Christoffers. „Ganze Miesmuschelbänke sind inzwischen von den Austern überwuchert.“ Er ist einer der letzten zehn Miesmuschelfischer an der Küste (sie fingen 2004/05 noch rund 2.670 Tonnen – im Wert von 2,5 Millionen Euro), aber die Miesmuscheln werden immer weniger, Umweltverbände fordern seit Langem, ihren Fang einzustellen. Es gibt einen „Miesmuschel-Managementplan“ und seit dem Jahr 2018 einen „Kompromiss im Muschelkrieg“ – zwischen Ökonomie und Ökologie.

Seltene Muschelseide

Neben der Pazifischen Auster hat es auch ein winziger Mittelmeerkrebs auf die Miesmuscheln abgesehen – aber mit gänzlich anderen Absichten. Man nennt ihn Muschelwächter und er hat sich im Inneren von Steckmuscheln angesiedelt. Diese Mittelmeermuscheln sondern aus einer Drüse ein seidiges Geflecht ab, mit dem sie sich am Boden verankern. Früher stellte man aus diesen feinen „Byssusfäden“ edle Kleidungsstücke und Bilder her.

In der Antike war diese Kunst und auch die Steckmuschel weit verbreitet, weswegen sich unter anderem Aristoteles mit der zu seiner Zeit gerühmten Symbiose zwischen der Steckmuschel und dem Muschelwächter beschäftigte. Der kleine Krebs hat Augen, und wenn Essbares zwischen die Schalen der Muschel geraten ist, zwickt er sie, die sich daraufhin schließt und beide machen sich dann über die Nahrung her, so nahm er an.

Für den Biologen D’Arcy Thompson bestand ihre Beziehung jedoch darin, dass der kleine Krebs der Muschel als „Türwächter“ dient – sie also eher beschützt als mit ihr zusammen Nahrung einfängt. Thompson konnte sich dabei auf Cicero und Plutarch berufen, für die der „Wächter“ außerhalb der Muschel lebt, das heißt „vor dem Tor der Muschel sitzt und sie bewacht“, wie Cicero schrieb.

Beiden Autoren ging es um die erfolgreiche „Zusammenarbeit“ von Krebs und Steckmuschel: Dabei muss man sich laut Cicero „fragen, ob sie durch eine Übereinkunft oder schon seit ihrem Entstehen von der Natur selbst aus zu dieser Verbindung gekommen sind“. Für die Stoiker war das ein Problem, weil sie davon ausgingen, dass allein der Mensch über „Rationalität“ verfügt, was ihn von anderen Tieren unterscheidet. Allen eigne jedoch so etwas wie „Selbsterhaltung“ und „Selbstbefreundung“ – denn sie haben ein „Bewusstsein“ ihrer angeborenen „Verfassung“.

Der Schriftsteller Rudolf Kleinpaul blieb dagegen in seinem 1893 veröffentlichten Werk „Das Leben der Sprache und ihre Weltstellung“ skeptisch: „Die Alten glaubten, diesmal aber irrigerweise, an ein Freundschaftsbündnis zwischen Krebs und Muschel.“ Ähnlich heißt es in Meyers Konversationslexikon: „Im Altertum sprach man von dem sogen. Muschelwächter, einem Krebs, der seinen Wirt vor Gefahren warnen, dafür aber in ihr wohnen sollte. Letzteres ist richtig, ersteres grundlos.“

Unerörterte Beziehung zur Muschel

Das Internet ist schnell. Im Lexikon wissen.de heißt es über den Muschelwächter – quasi definitiv: „Die bis 1,8 cm breite Krabbe aus der Gruppe der Pinnoteridae; lebt frei im Mantelraum verschiedener Muscheln. Zur Paarung verlassen die Tiere ihre Muschel. Danach sterben die Männchen, während die Weibchen wiederum eine Muschel aufsuchen.“ Die Art ihrer Beziehung zur Muschel bleibt dabei unerörtert.

Neuerdings ist der kleine Krebs auch für die hiesigen Fischer ein Thema – seit Mitarbeiter der Schutzstation Wattenmeer im Inneren einer Miesmuschel einen Muschelwächter entdeckten. Sie vermuten, dass die Ursache seines Vordringens in den Norden entweder eine Folge der Meereserwärmung ist oder der Einfuhr von Miesmuscheln aus England. Diese werden trotz Protesten der Naturschützer seit 2006 im Wattenmeer ausgebracht. Und bei Sylt befinden sich Schleswig-Holsteins größte Zuchtflächen für Miesmuscheln.

Die Miesmuschelfischer befürchten wegen des Muschelwächterfundes bereits eine weitere Verunreinigung ihrer Muschelbänke – und damit Absatzprobleme, denn es sei wenig verkaufsfördernd, wenn Krebse in der Muschel hausten. So werden diese zu Wächtern der Muscheln: „Sie entwerten sie für die Vermarktung“, erklärte der Biologe Rainer Borcherding von der Sylter Schutzstation. Das sei eine „Öko-Lüge“, erwiderte der Geschäftsführer der Firma Royal-Frysk: „Unsere Importe werden von der Fischereiabteilung des Amtes für Ländliche Räume überwacht, den Muschelwächter gibt es überdies bereits seit 25 Jahren im Watt.“

Während die kleine Mittelmeerkrabbe die Nordseemiesmuscheln eventuell vor den Fischern schützt, kommt ihnen gegen die Pazifischen Austern ein anderes Tierchen zu Hilfe: „Vom südlichen Bereich der Nordsee wandert eine Schnecke mit dem Namen Rapana venosa die Küste herauf. Sie kann die Austernschale durchbohren und das Innere aussaugen“, erklärte der Meeresforscher Achim Wehrmann. „Die Schnecke, die ursprünglich ebenfalls aus dem Pazifik stammt, könnte also der natürliche Feind werden, der die Auster an ihrer rasanten Ausbreitung hindert. Und die verbliebenen Miesmuschelbänke so auch vor der Überwucherung bewahrt. Wir hätten damit einen Fall, wo eine invasive Art eine ihr vorangegangene in Schach hält. Es bleibt spannend unter Wasser!“

Die Wahrheit auf taz.de

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

ist die einzige Satire- und Humorseite einer Tageszeitung weltweit. Sie hat den ©Tom. Und drei Grundsätze.

kari

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.