Trends in der Tattoo-Szene: Die Irritation der ignoranten Gurke

Tattoos, die Alltagsobjekte zeigen, sind en vogue. Zugleich verabschieden sich Tattoo-Artists von ihren künstlerischen Fertigkeiten. Was ist da los?

Das Tattoo einer Tüte Pommes auf einem Oberarm

Kann man so machen – muss man aber nicht Foto: Tobi der Dude

Sommer in Berlin. Open-Air-Kino in einem Hinterhof. Junge Menschen in Wonne. Gezeigt wird „Koyaanisqatsi“, ein Film von 1982: keine Worte, starke Bilder, starke Musik. Wer hier sitzt, freut sich über cineastische Avantgarde – sieht sich vielleicht selbst als Vorreiter in Sachen Kultur. Bio-Zisch und Bierchen fließen, das Leben ist süß.

Da entdecke ich sie vor mir. Eine offene Schachtel Zigaretten, tätowiert auf den Arm eines attraktiven jungen Mannes; verewigt, was uns ohnehin alltäglich umgibt, profan und schmucklos, auf dem einzigen Körper, den dieser Mann hat.

Die Tattoo-Welt hat die Trivialitäten des Alltags für sich entdeckt. Auf Instagram bestätigt sich: Teebeutel, Stühle, Kleiderbügel und Käsereiben, Glühbirnen und eben Zigaretten – sie alle wandern unter die Haut. Instagram zeigt auch: Betont krakelig darf es ebenfalls zugehen. Steckt mehr dahinter als hedonistische Verschwendung jugendlicher Haut?

Wer Tattoos hat, weiß: Vor der Sinnfrage ist kein Entkommen. Und das sei auch legitim, wie der Essener Kommunikationswissenschaftler Oliver Bidlo skizziert, der die soziale Funktion von Tätowierungen erforscht. Schließlich sprechen Tattoos mit uns. Im Motiv und im Stil ihres Tattoos transportiert eine Person Informationen über sich – sei es Freude am Schönen, ein sozialer Code oder ein biografischer.

Nackte Idee des Objekts

Außerdem würden Tattoos zunehmend an sichtbare Stellen wandern, „um von anderen wahrgenommen zu werden“, sagt Bidlo. Sie haben Appellcharakter: „Wir sollen quasi nach ihrer Bedeutung fragen.“ Die Bedeutung des Teebeutel-Tattoos also: Was könnte das sein?

Um das verstehen zu können, müsse laut Bidlo breiter auf das Phänomen Tattoo geschaut werden. Die Ewigkeit, für die sie bestimmt sind, der Schmerz, den es für sie zu ertragen gilt. Die Sinnlichkeit, mit der Tattoos mitunter spielen, und auch das Geld, das für sie fällig ist: „All das macht das Tattoo an und für sich zu etwas Besonderem, das von der Norm abweicht.“ Wie aber irritieren, wenn das Tattoo mehr und mehr im Mainstream ankommt?

Alexander Stimpson

„Wir lieben Einfachheit. Wir wollen langsamer machen, wahrnehmen, achtsamer sein“

So werde die Trivialisierung zu einem der letzten Mittel, um mit der Besonderheit des Tattoos zu spielen, mutmaßt Bidlo. „Lasse ich mir also eine Gurke tätowieren, ist die Irritation viel größer.“

Eine Gurke ist eine Gurke ist eine Gurke? Auch die alltäglichsten Objekte können für mehr stehen, gar als feingeistige Referenz funktionieren – „Vincents Stuhl mit Pfeife“ sei nur ein Beispiel unter den kulturgeschichtlich geschätzten Sitzmöbeln. Die Zigaretten im Kino und die Kleiderbügel-Tattoos auf Instagram aber wollen keinen Kontext, auch keinen Schnickschnack. Es geht um die nackte Idee des Objekts.

Wunsch nach Unbeschwertheit

Alexander Stimpson erkennt darin jene Vorliebe für Minimalismus, die sich generell in der westlichen Welt ausbreite. Der australische Tattoo-Künstler sticht unter dem Namen „stick around tattoo“ stilisierte, fast sterile Tattoos. „Wir lieben Einfachheit. Wir wollen langsamer machen, mehr von der Welt wahrnehmen können, achtsamer sein“, sagt er. Diese Sehnsucht wiederum, so die Psychotherapeutin und Expertin für Identitätsprozesse und Tattoos, Gunhild Häusle-Paulmichl, wurzele in dem Wunsch nach Unbeschwertheit.

Eine These, die Jule aus Berlin widerzuspiegeln scheint: Die 29-Jährige hat sich eine Portion Pommes auf ihren Arm stechen lassen, weil Pommes sie „einfach an Kindheit und Schwimmbad und frei sein“ erinnern. „Die neoliberale Gesellschaft fordert ständig unsere Anstrengung“, sagt Häusle-Paulmichl. Im Umkehrschluss wird die Leistungsverweigerung zum Tabu – auch jene, ein intellektuell aufgeladenes Tattoo zu tragen. Damit wären wir wieder beim Potenzial zur Irritation.

Der Mann an der Nadel, aus der Jules Pommes flossen, ist der in Berlin lebende Tobi Bueller, und er kann nicht malen. Das sagt „Tobi der Dude“ zumindest selbst. Vor fünf Jahren habe er sich schon mal als Tätowierer versucht, „damals aber hat mein Stil keinen Anklang gefunden“. Dieser lässt an Kita-Gemäldegalerien denken: mit „viel Liebe“ gemacht, was ihm wichtig sei, grob und simpel.

Wenn Bueller seine „Dude-Tatoos“ bei Instagram präsentiert, taucht auch der Hashtag #Igno­rantStyleTattoos in seinen Beiträgen auf. Mehr als 130.000 Bilder zeigt Instagram aktuell unter diesem Stichwort – von Tattoos, die naiv gehalten sind, und von Tattoo-Artists, die Fertigkeiten nicht nötig haben oder über Bord werfen.

Konservative Tattoo-Szene

Was der Ignorant Style ignoriere, seien Traditionen, sagt woozymachine. Auch der Tattoo-Artist aus Großbritannien hat sich dem Ignorant Style verschrieben, entwirft comicartige Szenen, macht Computer oder Kakteen zu Tattoos. Im Juni gastierte er im Unikat, einem Tattoo-Studio in Berlin-Neukölln. Sein eigenes hat er in London, getauft ist es auf den Namen „Palace of Imperfection“: Gerät eine seiner massiven Linien ausgebeult, bleibt sie ausgebeult.

Dass sich derartige Trends entwickeln können, ist nicht selbstverständlich. „Die alte Tattoo-Szene ist teilweise extrem konservativ und hat bestimmte Vorstellungen, was als Tattoo durchgeht und was nicht“, sagt Laura Lesser, die dauerhaft im Unikat in der Karl-Marx-Straße sticht. Seit etwa zehn Jahren aber öffne sich der Markt. Ein Wandel, den die Szene den sozialen Medien zu verdanken hat? Instagram sei heute jedenfalls die erste Adresse, um sich seine Tattoo-Artists auszusuchen, sagt Lesser.

Ob durch die Wahl des Motivs oder die Wahl des Stils: „Mit der Abwendung von der hohen Kunst, zu der Tattoo-Artists heute technisch fähig sind, grenzen sich jene innerhalb der Szene ab, die mit dem Mainstream nichts zu tun haben wollen“, sagt Kommunikationswissenschaftler Bidlo. Das mache den Ignorant Style zu einer Gegenbewegung, zu einem „Trend im Trend“.

Oder zu einem „Fuck you“, wie woozymachine es nennt. Eine Mission zu haben, verneint er vehement. Für künstlerische Emanzipation stehen seine Arbeiten, für die er immer wieder Hasskommentare erntet, trotzdem. „Der Ignorant Style ist für die Tattoo-Szene, was der Punk für die Musik war“, sagt woozymachine. Einen unglaublich guten Song kriege man schließlich auch mit drei oder gar zwei Akkorden hin. „Es ging damals nicht um dein Talent am Instrument und es geht heute nicht darum, technisch korrekt zu tätowieren. Es geht um die Message.“

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