Kontaktbereichsbeamtin am Alex: „Viele nennen mich Sheriff“

Für manche Berliner ist der Alex ein gefährlicher Ort. Sigrid Brandt hat ihn sich als Arbeitsplatz dagegen ausgesucht. Und einen ganz anderen Blick gewonnen.

Die Polizistin vor der Weltzeituhr

Diesmal andersrum. Normalerweise ist die Weste unter dem Diensthemd Foto: Wolfgang Borrs

taz: Frau Brandt, tragen Sie Ihre Schutzweste freiwillig?

Sigrid Brandt: Ja. Ohne das Ding würde ich mich natürlich freier fühlen. Aber so schnell kann man gar nicht gucken, wie einen jemand anzugreifen versucht. Wenn es passiert, passiert es von jetzt auf gleich.

Ist es Ihnen schon passiert?

Nein. Ich achte sehr auf die Körpersprache. Die Stimme und die Sprache sind mein wichtigstes Arbeitszeug. Wenn wir mit unserem Gegenüber reden, können wir viele Situationen ganz anders gestalten, als wenn wir nur agieren.

Schwingt da Kritik an Kollegen und Kolleginnen mit?

Nein. Aber ich würde mir wünschen, dass die Menschen mehr miteinander reden.

Sigrid Brandt

geboren 1964 in Nordrhein-Westfalen, ist Polizeihauptkommissarin und seit fünf Jahren Kontaktbereichsbeamtin auf dem Alexanderplatz. Als solche soll sie Kontakt zu den Bürgern suchen und herstellen. Außerdem gehört sie dem Kommunikationsteam der Polizei an, das bei Demonstrationen eingesetzt wird. Sie ist seit 1984 bei der Polizei, begeisterte Motorradfahrerin und hat im ersten Beruf Gärtnerin gelernt.

Hat es einen Grund, dass Sie die Schutzweste unter dem Polizeihemd tragen?

Wir als Kontaktbereichsbeamte sind dazu da, mit den Bürgern in Kontakt zu treten. Dabei spielt auch das Äußere eine Rolle. Eine offen getragene Schutzweste schafft Distanz. Viele Leute haben dann größere Probleme, auf Polizisten zuzugehen. Mit einem freundlichen Aussehen hat man einen ganz anderen Stand, als wenn da jemand steht, der zum Beispiel Handschuhe trägt.

Handschuhe sind bei der Polizei inzwischen fast der Normalfall. Wird das im Kollegenkreis problematisiert?

Ich spreche das lieber direkt an. „Ist dir kalt, Kollege?“, frage ich manchmal. „Wozu brauchst du die Handschuhe?“ Als Antwort kommt dann: „Das habe ich so gelernt. Außerdem könnte es sein, dass ich gleich zupacken muss“. – „Mach dich davon frei“, rate ich dann.

Wie kommt das an?

Nicht allen Kollegen gefällt das. Andererseits weiß ich, dass viele meine direkte Art super finden, auch wenn man mir das nie offen sagen würde. Ich bin eben nicht „normal“, in Anführungsstrichen.

Auf dem Alexanderplatz sind Sie seit fünf Jahren als Kontaktbereichsbeamtin tätig. Wie groß ist Ihr Revier?

Das Revier ist der Alexanderplatz. Punkt! Galeria, Brunnen der Völkerfreundschaft, Weltzeituhr und alles, was hinter dem Fernsehturm ist, also auch die Wasserkaskaden und das Areal am Neptunbrunnen. Wir sind hier zu dritt – zwei Kontaktbereichsbeamtinnen und ein Kontaktbereichsbeamter. Unsere Dienststelle, das ist ein tolles Team.

Wie muss man sich Ihre Arbeit vorstellen?

Der berühmte Platz in Mitte ist wegen der Kriminalität in Verruf geraten. Laut Polizei sind dort Taschendiebstahlbanden aktiv. Immer wieder kommt es zudem zu Gewalttaten: In den Nächten des Wochenendes geraten betrunkene junge Menschen aneinander. 2012 wurde der 20-jährige Jonny K. zu Tode geprügelt. Am 15. Dezember 2017 wurde deshalb dort eine neue Polizeiwache, die „Alex-Wache“, eingerichtet.

Die Zahl der Straftaten ging seit Einrichtung der Wache zurück: die der Diebstähle auf 367 (Vorjahreszeitraum: 453), der schweren Körperverletzungen auf 20 (41), der Hausfriedensbrüche auf 69 (100). Von Polizisten in der Wache seien bisher 10.000 Anfragen beantwortet worden. Meist fragen Touristen nach dem Weg. (dpa, taz)

Wir sind nur zu Fuß unterwegs, unterhalten uns mit den Menschen, beantworten viele Fragen.

Mit welchen Leuten haben Sie zu tun?

Viel mit Touristen. Sie wollen alles wissen: Wo ist die Weltzeituhr? Oder: Wie viele Figuren hat der Neptunbrunnen? Es sollen 56 Figuren sein, ich habe es aber leider noch nicht geschafft, alle zu zählen. Die Kontakte sind ausgesprochen freundlich. Ich mach auch jeden Blödsinn mit – etwa wenn sie ein Foto machen wollen. Dann sind da die Geflüchteten: Viele kommen zum Alexanderplatz, um Landsleute zu treffen. Leider kommt es dabei auch öfter zu Konflikten.

Was machen Sie in solchen Fällen?

Wenn wir merken, dass es Spannungen gibt, versuchen wir zu schlichten, indem wir die Situation offen ansprechen. Na, und dann sind da natürlich auch noch unsere Wohnungslosen.

Dafür, dass hier täglich 350.000 Menschen verkehren, finde ich, passiert vergleichsweise wenig.

Wo auf dem Alex halten sie sich auf?

Überall. 20 bis 30 sind hier fest. Vor drei Jahren hatten wir noch relativ viele Wohnungslose, die gebürtige Deutsche waren. Jetzt haben wir sehr, sehr viele Russen, Polen und Rumänen, die sich auch zusammentun, weil sie sich als Gruppe sicherer fühlen. Zum Schlafen gehen sie lieber unter die Brücken oder ganz woanders hin. Auf dem Platz haben sie Angst, nachts beklaut oder drangsaliert zu werden.

Was zieht die Obdachlosen zum Alex?

Sie möchten Teil der Gesellschaft sein. Überwiegend sind sie als Flaschensammler unterwegs. Bis 2016 lebte hier eine nette Dame, Anita. Sie war Mitte 50. Wir mussten sie wegschicken, weil sie sehr viele Lebensmittel gesammelt hat. Dadurch sind die Ratten gekommen. Man konnte sie nicht überreden, die Sachen wegzuwerfen. Sie hat gesagt, sie warte auf ihren Freund – der aber nie gekommen ist. Dann hatte sie offene Beine. Ich habe ihr mal was aus der Apotheke geholt, weil sie sich geschämt hat, da hinzulaufen. Das sind Kleinigkeiten, die einen Kontaktbereichsbeamten halt auch ausmachen.

Was ist aus Anita geworden?

Kollegen haben ihr einen Wohnplatz besorgt. Es hieß, sie fühle sich da sehr wohl. Aber wir haben keinen Kontakt mehr und wissen nicht, ob sie noch lebt. Es kommt auch vor, dass auf dem Platz Menschen sterben. Das ist ja letztendlich der Wohnort für sie.

Wie lange kann man so einen Job machen?

Bis ich in Pension gehe oder sage, ich habe kein Interesse mehr. Das ist ja etwas Freiwilliges. Man kann niemanden dazu zwingen. Man sollte das mit Respekt und Herzlichkeit machen. Aber das gilt für alle Berufe.

Wie werden Sie von den Leuten angesprochen?

Viele nennen mich Sheriff oder die Köppin vom Alexanderplatz. (lacht).

Zur Not ist da immer noch die Trillerpfeife Foto: Wolfgang Borrs

Sheriff – wie verstehen Sie das?

Das hat etwas Herzliches. Oder auch, wenn die Wohnungslosen manchmal rufen: „Ey Brandi, Sheriff, komm mal her.“ Mehr Anerkennung kann man hier als Mensch gar nicht kriegen. Nicht so: „Hey Bulle.“ Das ist schön. Das ist es, was unsere Arbeit ausmacht. Das Miteinander.

Waren Sie schon Kontaktbereichsbeamtin, als der 21-jährige Jonny K. 2012 auf dem Alexanderplatz ums Leben kam?

Ja, aber da war ich nicht im Dienst.

Das war der Wendepunkt. Ab da war man sich in der Politik einig: Es muss was passieren.

Jonny K.s Schwester hat mit ihrem Aufruf zur Zivilcourage viel bewirkt. Das Schlimme ist, dass sich die Leute nicht für andere einsetzen. Aber das ist kein spezielles Problem des Alexanderplatzes. Das ist ein gesellschaftliches Problem.

Ärgert es Sie, dass der Alex so einen schlechten Ruf hat?

Dafür, dass hier täglich 350.000 Menschen verkehren, finde ich, passiert vergleichsweise wenig. Aber natürlich passieren tagtäglich Straftaten, auch wenn wir aktiv sind. Das haben Sie doch selbst neulich bei der Pressekonferenz erlebt.

Die beiden Senatoren für Inneres und Justiz hatten Anfang Juni zum Alexanderplatz eingeladen, um den Medien zu zeigen, wie Rot-Rot-Grün die Kriminalität bekämpft. Plötzlich rannte ein Ladendieb vorbei und hinter ihm her Detektive.

Das kommt vor. Dadurch, dass wir als Polizei sichtbar sind, können wir vielleicht das eine oder andere verhindern. Aber es kann auch sein, dass genau ein Haus weiter jemand abgestochen, drangsaliert oder beleidigt wird. Die neue Polizeiwache am Alex erfüllt auf alle Fälle einen guten Zweck: Viele Leute sagen, dass sie sich dadurch sicherer fühlen. Dieses Bangemachen und das absichtliche Hochhalten der Angst in den Medien finde ich schlimm. Über die Not und das Elend, die es hier gibt, wird dagegen kaum geschrieben.

Wir Frauen haben es leichter. Männer haben ja die Tendenz aufzumuskeln. Mit einem Wohnungslosen, der gerade etwas entwendet hat, brauche ich aber nicht harsch umzugehen

Worauf wollen Sie hinaus?

Verhungern tut hier keiner. Es gibt viele Organisationen, die hier tätig sind. Aber was ist mit den vielen alten Leuten, die rund um den Alexan­derplatz leben? Hier haben ja sehr viele Häuser noch einen Altbestand an Mietern. Früher hat man sie noch gesehen in den alten Cafés: Da saßen ältere Damen und haben ein Stückchen Kuchen gegessen. Das findet heute überhaupt nicht mehr statt.

Woran liegt das?

Die Rente reicht vielleicht gerade, um die Miete zu bezahlen. Sie schämen sich, zum Amt zu gehen. Es gibt ältere Menschen, die sind so arm, dass sie fast verhungern. Wie das aussieht, habe ich erlebt, als ich noch auf einem Abschnitt in Charlottenburg war. Bei einem Einsatz in einer Wohnung habe ich die alte Dame gefragt, wo ihre Katze sei. Ich hatte eine geöffnete Dose Katzenfutter gesehen. „Ich mache mir gerade etwas zu Essen“, hat sie gesagt. Sie könne sich kein Fleisch leisten, im Katzenfutter sei auch Fleisch drin. Ich bin da geblieben, um mitzuessen. Mein Kollege meinte: „Du spinnst.“

Warum haben Sie das gemacht?

Es ging mir darum, einem Menschen, der nichts hat und teilen möchte, Wertschätzung zu erweisen.

Wie hat es geschmeckt?

Es war gut zubereitet, aber ich würde es nicht jeden Tag essen wollen.

Haben Sie es als Frau schwerer oder leichter in dem Job als ein Mann?

Wir Frauen haben es leichter. Männer haben ja die Tendenz aufzumuskeln. Ich benutze gern das Beispiel von den Hunden – ich habe ja welche: Wenn sich zwei Rüden begegnen, kommt es sofort zum Konflikt. Mit einem Wohnungslosen, der gerade etwas entwendet hat, brauche ich aber nicht harsch umzugehen, wie das leider manchmal bei Kollegen vorkommt. Klar riecht er auch nach Urin und Kot. Aber er ist trotzdem ein Mensch.

Natürlich gibt es auch kritische Momente. Wenn ich bei einer Verkehrskontrolle merke, mein Gegenüber ist sehr angespannt, erwarte ich, dass er die Hände aus der Hosentasche nimmt.

Haben Sie überhaupt keine Konflikte mit Leuten?

Natürlich gibt es auch kritische Momente. Wenn ich bei einer Verkehrskontrolle merke, mein Gegenüber ist sehr angespannt, erwarte ich, dass er die Hände aus der Hosentasche nimmt. Es geht auch um einen respektvollen Abstand. Klar werde ich auch mal angepöbelt. „Kennen wir uns?,“ frage ich dann. – „Nö, aber du bist Bulle.“ Ich: „Und? Auch hinter einem Bullen steckt ein Mensch.“

Was wünschen Sie sich für den Alex?

Mehr Bänke und ein schönes Café mitten auf dem Platz am Neptunbrunnen, von wo aus man sehen kann und gesehen wird. Das würde manche Leute vielleicht davon abhalten, dort Zoff zu machen. Und eine Dusche! Viele Touristen sagen, sie würden sich gern mal kurz abduschen – und auch unsere Wohnungslosen. Die Toilette am Volleyballfeld ist schon sehr gut. Klar, wird da auch mal gedealt und ein Schuss gesetzt. Aber wir wissen wenigstens immer, wo die Menschen sind.

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