Eurovisão am Tejo, Folge 2: Seht her, so geht es nicht

Es gibt Länder, die können nicht gewinnen. Wenn beispielsweise Montenegro mal was reißen will, müsste es moderneres Zeug zum ESC schicken.

Ein Mann singt auf der Bühne, vier Tänzerinnen begleiten ihn

Vanja Radovanović, der blonde Mann, wird das Finale gewiss nicht erreichen Foto: Andres Putting

LISSABON taz | Der vierte ESC-Probentag in der Altice-Arena von Lissabon – ein knappes Dutzend Acts trainieren die zuvor einstudierten Choreografien. Die TV-Regie achtet darauf, dass sie ihre richtige Bühnenpositionen einnehmen, damit die Scheinwerfer sie ins Licht tauchen können. Von Georgien bis zur Ukraine, dazwischen Schweden und Polen, sind alle sehr rührig. Das geht nicht immer gut. Die ersten Probenschritte bei einem Eurovision Song Contest müssen gerade Künstler und Künstlerinnen, die in Schulaulen und Clubs aufzutreten gewohnt sind, überstehen und sich eben nicht vor Furcht einnässen. Fear of performing!

Man sieht bei diesen Proben für den ESC – bei dem bis auf die großen, finanzstarken Länder wie Deutschland und Portugal als Gastgeber, alle erst mal in Semifinals müssen, um sich für das Grand Final zu qualifizieren – Materialschlachten sondergleichen. Der ukrainische Act, eine nervöse Pseudorocknummer, beginnt mit dem Sänger Mélovin, der aus einem monströsen Flügel in Rot sich befreit, zuvor gefesselt durch rote Riemen. Das mag zwar lehrreich sein für angehende Dekorateur*innen (Seht her: So geht es nicht!“), aber für das Lied ist es störend. Sei's drum: Die Ukraine will ja ohnehin nicht wieder gewinnen. Man hat einfach noch vom vorigen Jahr in Kiew die Backen satt – da darf es dann auch mal ein ödes Lied sein.

Und dann gibt es Länder, die können nicht gewinnen, weil sie immer wieder in Anfällen von Selbstsentimentalisierung auf die Idee kommen, die einheimische Folklore dem eurovisionären Publikum vorzusetzen. Lieder, die man irgendwie seit 40 Jahren kennt und doch als neu ausgegeben werden. Etwa das montenegrinische, dargeboten von einem jungen Mann, der Vanja Radovanović heißt und ein hellblaues, paillettenübersätes Croupierjäckchen trägt. Um ihn nehmen Frauen in weißen, schwingenden Kleidern Aufstellung. Sie werden um ihn herumschweben, ihm gelegentlich mal die Hände auf die schmalen Schultern legen, dann wieder zur Seite gehen.

Und das Lied, das auf Deutsch übersetzt „Raureif“ heißt, ist schwermütig und balladesk auf eine konventionelle Art, außerdem pseudopompös. Es klingt, als sei das schwermütige Karma, das auf diesem Teil Exjugoslawiens liegt, nie verscheucht worden. Jedes zweite der Lieder aus Ländern, die einst unter Josip Broz Tito friedlich blieben, klingt wie dieses: balkanesische Edelschwermut, die von Liebe und Leid, vom Bösen und vom Guten handelt. Das wird nächste Woche „sich nicht ausgeh'n“, wie man in Österreich sagt.

Jan Feddersen ist taz-Redakteur. Er bloggt auf der NDR-Plattform eurovision.de über den ESC.

Vanja Radovanović wird das Finale gewiss nicht erreichen. Und seine Choristinnen mit ihm auch nicht: Sie intonieren eine Nummer, die kaum mehr als Folklore ist, lackierte Volksmusik, die nicht hübsch klingt. Wenn Montenegro mal echt was reißen will, muss es moderneres Zeug zum ESC schicken. Oder wenigstens gut gelaunte, na, besser gelaunte Musik – elektronisch instrumentiert, so wie es Lettland ja auch schafft seit vier Jahren.

P.S.: Netta Barzilai weiß, dass sie Donnerstag zur zweiten Probe auf die Lissaboner Bühne der Atice-Arena muss. Dem Vernehmen nach soll sie, wie alle Tage, ziemlich gut gelaunt sein. Ihr Titel „Toy“ steht in den europäischen Wettbüros immer noch, und das seit vielen Wochen, unangefochten an erster Stelle.

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