Kommentar Wahlen in der Türkei: Das Spiel ist noch nicht entschieden

Erdogan hat die Wahlen vorgezogen. Möglichst schnell will er sich alle Vollmachten sichern. Die Opposition hat scheinbar keine Chance – oder doch?

Erdogan steht winzig zwischen riesigen türkischen Flaggen

Wie's dem Herrscher gefällt; Erdogan will bald allein auf weiter Flur stehen Foto: dpa

So etwas nennt man eine Überrumpelungsstrategie: Monatelang hat der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan bestritten, dass die Präsidentschaftswahl vorgezogen werden könnte und plötzlich, wie aus dem Nichts, kommt die Entscheidung: Wir ziehen die Wahlen vor. Nicht nur um ein Jahr, sondern gleich um eineinhalb Jahre. Damit bleiben der Opposition jetzt gerade einmal zwei Monate, um zu versuchen, Erdoğan zu stürzen.

Denn tatsächlich geht es in der Türkei nicht um irgendeine Präsidentschafts- und Parlamentswahl. Sondern darum, die im April letzten Jahres durchgepeitschte Verfassungsänderung, die dem Präsidenten alle Vollmacht gibt und das Parlament zur leeren Hülle degradiert, endgültig in Kraft zu setzen. Der nächste Präsident wird ein Diktator auf Zeit. Zwar regiert Erdoğan schon jetzt, als hätte er alle Vollmachten, doch das geht nur, weil seit nunmehr knapp zwei Jahren in der Türkei der Ausnahmezustand herrscht, der denn auch gestern gleich noch einmal bis zu den Wahlen verlängert wurde.

Hat die Opposition in dieser Situation noch eine Chance? Erdoğan hat alles dafür getan, dass dies nicht der Fall ist. Er hat den Zeitpunkt zu seinen Gunsten bestimmt, er kontrolliert die Medien und er setzt sämtliche staatlichen Ressourcen für seinen Wahlkampf ein, auch wenn das eigentlich nicht erlaubt ist.

Um die Opposition steht es dagegen auf den ersten Blick sehr schlecht. Die wichtigsten Leute der kurdisch-linken HDP sitzen im Gefängnis, die neu gegründete rechtskonservative IYI Partei ist organisatorisch noch nicht so weit und wird vielleicht sogar aus formalen Gründen ausgeschlossen, und die sozialdemokratisch-kemalistische CHP hat keinen Kandidaten, der gegen Erdoğan bestehen könnte. Kemal Kilicdaroglu, der Parteichef, ist nicht der Mann, der die Massen begeistert.

Reine Intellektuellen-Debatte

Es gibt viele Stimmen, die sagen, angesichts der unfairen Umstände solle man die Wahl lieber boykottieren, als in Erdoğans Theater mit zu spielen und ihm dadurch noch eine scheinbare Legitimität zu verleihen. Das ist aber eine reine Intellektuellen-Debatte, die meisten Türken werden zur Wahl gehen. Für die Opposition gibt es deshalb nur eine kleine Chance: Sie muss sich jetzt, trotz aller Gegensätze, auf einen gemeinsamen Kandidaten verständigen, einen Kandidaten, der mit dem Auftrag startet, das Präsidialsystem wieder abzuschaffen. Ein Anliegen immerhin, dass die gesamte Opposition eint.

Das Motto muss sein: Wir haben keine Chance, also nutzen wir sie. Die türkische Geschichte ist voller Überraschungen, noch hat Erdoğan nicht gewonnen.

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