Einwanderung von Afrika nach Europa: „Bleibt mal lieber zu Hause“

Das deutsche „Auslandsarbeitsamt“ in Tunesien soll die Auswanderung nach Europa reduzieren. Dabei ist die Migration von dort eher gering.

Boote vor Sidi Bou Said in Tunesien

Geflüchtete sollen nach deutscher Auffassung lieber nicht von der tunesischen Küste ablegen Foto: imago/imagebroker

TUNIS taz | Aymen Sassi ärgert sich. „Ich war dumm“, sagt der 28-Jährige. Den Sprung nach Deutschland hat er vergeigt. Doch Scheitern und Erfolg liegen nah beieinander. Einen Augenblick später ist er schon wieder froh: „Gott sei Dank habe ich eine neue Arbeit – alles gut.“ Sassi lernt Deutsch. Er hat das Niveau A2 erreicht – Grundkenntnisse. Mit New-York-City-Basecap, schwarzer Jacke, roten Socken und grünen Sportschuhen sitzt er im Deutsch-Tunesischen Zentrum in Tunis, einer Art deutschem Auslandsarbeitsamt in Nordafrika.

Eine ruhige Nebenstraße im Zen­trum der Hauptstadt. Am gegenüber liegenden Bordstein ist ein Auto vor einer Werkstatt aufgebockt, die Beine des Mechanikers schauen unter dem Motor hervor. Das Ladenlokal im Erdgeschoss hat Fliesenboden, drei helle Schreibtische stehen dort. Die Mitarbeiterinnen links und rechts finanziert die Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) der Bundesregierung. In der Mitte arbeitet eine vom tunesischen Staat bezahlte Kollegin.

Sassi erzählt seine Geschichte: Als er gerade das Universitätsdiplom für Tourismus in der Tasche hatte, verübten islamistische Terroristen tödliche Anschläge auf Hotels und Museen. Das war 2015. Weil Millionen Europäer nun auf ihre Reisen nach Tunesien verzichteten, verschwanden viele Arbeitsplätze in der Fremdenverkehrsbranche. Auch Sassi verlor seinen Job. Dann erfuhr er über Facebook vom deutschen Auslandsarbeitsamt.

CSU-Entwicklungsminister Gerd Müller ist stolz auf diese Institution, die er vor einem Jahr in Tunis gründen ließ. Sie soll dazu beitragen, die Einwanderung von Afrika nach Europa zu verringern. Kann das funktionieren?

Die Mitarbeiterinnen des Zentrums erklärten Sassi: Weil Deutschland Köche und Kellner braucht, könne er ein Arbeitsvisum bekommen. Der Tunesier jedoch sagte „Nein danke“. Denn er stellte sich einen besseren Beruf vor – Hotelmanager zum Beispiel. Dafür aber reichten seine Sprachkenntnisse nicht. Aus der Traum. Kurz darauf verfluchte Sassi seine Entscheidung – er hätte vielleicht doch besser als Kellner nach Deutschland gehen sollen.

Vertreter eines berechtigten Interesses

Trotzdem wussten die jungen Arbeitsamtsfrauen Rat. Wie wäre es denn mit einer dreimonatigen Umschulung zum Community-Manager? Solche Fachleute für Social-Media-Kommunikation werden in Tunesien gesucht. Sassi schlug ein. Und tatsächlich: Seit einem Monat hat er nun eine feste Stelle als Internetbeauftragter des Musikfestivals Rouhaniyet, das auf islamische Sufi-Musik spezialisiert ist. „750 Dinar verdiene ich monatlich“, sagt er. Für tunesische Verhältnisse ist das „ein guter Lohn“, wenngleich umgerechnet nur 250 Euro. Glück gehabt, auch wenn es mit der Auswanderung ins gelobte Deutschland nicht klappte.

Doch jetzt weicht die gute Laune in Sassis Gesicht einer Stirnfalte des Zweifels. Einen Punkt müsse er doch mal ansprechen, wendet er sich an die Journalisten, denen die GIZ das Arbeitsamt in Tunis zeigt: „Was ist der Sinn dieses Zentrums hier?“ Der junge Tunesier betrachtet sich nicht als Bittsteller, sondern als Vertreter eines berechtigten Interesses. Wolle Deutschland Leute einreisen lassen oder potenzielle Immigranten abweisen? Mit solchen Fragen ist häufig konfrontiert, wer durch das nordafrikanische Land reist.

Im großen Schaufenster des Zentrums hängen zwei Infoplakate, die die Dienstleistungen des Amtes erläutern. Dabei geht es um Jobs für Tunesier in ihrem Heimatland, Beratung für Heimkehrer aus Europa und Arbeitsverträge in Deutschland. Gemessen an den Zahlen liegt der Schwerpunkt auf den ersten beiden Punkten. Nach Informationen der GIZ wurden bis Ende vergangenen Jahres insgesamt 1.500 Leute beraten. Man hatte Kontakt zu 43 Rückkehrern.

Nur neun Pflegekräfte und drei Computerspe­zia­listen konnten bislang legal zur Arbeit nach Deutschland einreisen, weitere neun Pflegekräfte sollen folgen. „Bleibt mal lieber zu Hause“, scheint die Botschaft des Arbeitsamts zu lauten.

Vor dem Hintergrund der Debatte in Deutschland erscheint diese Ausrichtung plausibel. Bei den Silvesterfeiern 2015 in Köln wurden zahlreiche Frauen belästigt. Die Beschuldigten stammten zu einem guten Teil aus Nordafrika. Unter ihnen waren auch Tunesier, wenngleich wenige. Richtig in den Keller ging der Ruf des Landes dann, als Anis Amri am 19. Dezember 2016 bei seinem Attentat auf den Berliner Breitscheidplatz elf Besucher des Weihnachtsmarkts tötete und 55 verletzte. Der Attentäter war Tunesier.

Persönlicher Traum von Europa

Schon als Reaktion auf die Ereignisse von Köln flog der seinerzeitige Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) im Frühjahr 2016 nach Nordafrika. Dort vereinbarte er, dass Tunesier, die illegal in der Bundesrepublik leben, verstärkt abgeschoben werden sollten. Ein Jahr später kam Pre­mierminister Youssef Chahed nach Berlin. Kanzlerin Angela Merkel kündigte finanzielle Anreize für Leute an, die freiwillig in ihr Heimatland zurückkehren. Die Eröffnung des deutsch-tunesischen Arbeitsamtes im März 2017 fügte sich in diese Maßnahmen.

Auch Salem Fadhloun (25) hegte seinen persönlichen Traum von Europa. Und er scheiterte ebenfalls. Noch nicht einmal den Strand erreichte er, von dem aus sie losfahren wollten. Weil die Polizei vorher da war, brachen die Schleuser die Flucht ab. Beim zweiten Anlauf saß Fadhloun schon im Boot, erzählt er, als die Nationalgarde alle verhaftete.

Eine wesentliche Ursache des Problems liegt nicht in der Realität, sondern im neuen deutschen Flüchtlingstrauma

Jetzt arbeitet er in der Textilfirma Sartex, die mit der GIZ kooperiert. In den fußballfeldgroßen Hallen in der Kleinstadt Ksar Hellal, drei Autostunden südlich von Tunis, stehen Hunderte Nähmaschinen in langen Reihen. Es ist laut, die Fabrik surrt, pfeift, rauscht und brummt. Sie produziert vor allem Jeans für den Export. Hier arbeiten fast nur Frauen.

Fadhloun ist einer der wenigen Männer. Er steht unter anderem in der Stickerei. Mehrere Hundert Male täglich legt er die Gesäßtasche einer Jeans auf den Maschinentisch, überprüft am Display die Computereinstellung, gibt der Nadel den Startbefehl. Eine halbe Minute dauert es, bis Buchstaben oder Blumenmuster in weißem Garn auf blauem Stoff erscheinen. Dann legt der Arbeiter das fertige Teil auf den Stapel hinter sich und greift die nächste Jeanstasche.

„Zu Hause reichte das Geld nicht“, berichtet der korpulente Mann mit den rötlich blonden Haaren, „deswegen wollte ich nach Europa.“ Vor allem die zu teuren Schulbücher für ihn als das älteste von vier Kindern hätten ein Loch in die Familienkasse gerissen. Nach dem misslungenen Fluchtversuch kam er mit Glück in Kontakt mit Sartex, wo er eine Ausbildung zum Textilarbeiter machen konnte – ebenso wie seine Frau Heifa Sassi, die er hier kennenlernte. Jetzt, wo sie zusammen sind, gehe es beiden finanziell etwas besser, sagt die Frau in rotem Kopftuch und schwarzgrauer Strickjacke, wobei sie immer noch in nur einem Zimmer bei Fadhlouns Eltern wohnen.

Es fehlt an vernünftiger Berufsausbildung

Die GIZ bezahlte einen Teil des Ausbildungszentrums, in dem Fadhloun und Sassi lernten. Hinter solchen Aktivitäten der deutschen Entwicklungshilfe steht die Analyse, dass es in Tunesien unter anderem an vernünftiger Berufsausbildung fehlt. Hunderttausende Akademiker verlassen die Universitäten mit Abschlüssen, die die Unternehmen nicht gebrauchen können. Das sei ein wesentlicher Grund für die hohe Arbeitslosenquote, sagen Fachleute. Durchschnittlich liegt sie über 15 Prozent. Von den jungen Leuten bis 24 Jahre hat fast jeder Zweite keine formelle Beschäftigung.

Diese Lage ist nicht neu. Seit der Revolution 2011 erhöht die Bundesregierung deshalb permanent ihre Zuschüsse und Kredite, um das neue, demokratische System zu unterstützen. 2017 erhielt Tunesien knapp 460 Mil­lio­nen Euro aus Deutschland. Der größte Teil davon, über 200 Millionen, soll dazu dienen, moderne, konkurrenzfähige Jobs zu schaffen.

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Demgegenüber hatten im vergangenen Jahr lediglich 15 Millionen Euro deutscher Hilfe speziell etwas mit Migration zu tun – etwa das Geld für das Arbeitsamt in Tunis. Wegen Köln, des Berliner Attentats, der AfD im Bundestag und der allgemeinen Flüchtlingsdebatte steht dieser Aspekt in Deutschland jedoch im Vordergrund.

Der große Lauf der Entwicklungspolitik ändert sich freilich wenig. Auch das erscheint nachvollziehbar. Denn eigentlich ist das Migrationsproblem zwischen Tunesien und Deutschland Kleinkram. Lediglich 557 tunesische Staatsangehörige beantragten im vergangenen Jahr hierzulande Asyl. Auch wenn die verdeckte Anzahl Einwanderung höher ist, bleibt die Gesamtzahl wohl überschaubar. Denn die meisten Tunesier wollen nach Frankreich, Belgien oder Kanada – wegen der gemeinsamen französischen Sprache.

Und nur etwa 1.000 ausreisepflichtige Tunesier leben noch zwischen Rhein und Oder. Infolge der mittlerweile regelmäßigen Abschiebungen sinkt diese Zahl weiter. So kann man auf die Idee kommen, dass die Deutschen mit ihrem Gerede über die „Fluchtursachenbekämpfung“ im Hinblick auf Tunesien aus einer Mücke einen Elefanten machen. Eine wesentliche Ursache des Problems liegt nicht in der Realität, sondern im neuen deutschen Flüchtlingstrauma.

Legale Einreise für 21 Menschen

Wenige Beispiele einer ganz anderen deutschen Einwanderungspolitik gibt es mittlerweile allerdings auch. Einer, der davon erzählen kann, heißt Mounir Ben Abdallah. „Anfang ­April bin ich in Wiesbaden“, sagt er mit breitem Lachen, das seine Zahnspange freilegt. Er hat das große Los gezogen. Das Deutsch-Tunesische Zentrum bereitet ihn auf die legale Einreise nach Deutschland vor – einen von bislang 21 Glücklichen.

Der Grund: Abdallah verfügt über eine Qualifikation, die auf der Liste der Berufe steht, in denen hierzulande erheblicher Arbeitskräftemangel herrscht. Der 28-Jährige Tunesier ist ausgebildeter Krankenpfleger, er arbeitet auf der Intensivstation einer Klinik. Und dank der Kurse am Goethe-Institut spricht er ziemlich gut Deutsch. Per Skype bewarb er sich bei seinem zukünftigen Arbeitgeber in Hessen – der hat ihn genommen.

Abdallah findet das alles super. Wenn es klappt, will er „in Deutschland bleiben bis zur Rente“. Angst hat er allerdings auch – vor Rassismus. „Jeden Tag gibt es dort zwei Angriffe auf Einwanderer“, hat er gelesen. Die Journalisten versichern ihm, dass die Mehrheit der Deutschen in Ordnung sei – und Wiesbaden eine wohlhabende Stadt, wo er sich wenig Sorgen machen müsse.

Die Recherche-Reise fand statt auf Einladung der Gesellschaft für Interna­tio­nale Zusammenarbeit (GIZ) der Bundesregierung.

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