Winter in Nordjapan: Am Ende der Welt

Arktische Eisschollen und Spaßtourismus auf der Insel Shiretoko. Und ein Nationalpark, wo Touristen die letzte japanische Wildnis suchen.

Leute in Thermoanzügen in Eis und Schnee

Wanderung auf dem Packeis Foto: Markus Kirchgessner

Im Winter ist das abgelegene Gebiet kalt, farblos und frostig, das Ökosystem weitgehend unberührt, die biologische Vielfalt intakt. Im grau-nebeligen Meer vor der felsigen Küste schaukeln zerklüftete Eisschollen, arktische Eisschollen. In der kleinen Hafenstadt Rausu, Ausgangspunkt für winterfeste Reisende, Naturbeobachter, Vogelkundler, Trekker oder Fotografen, warten Eisbrecher und Fischerboote auf ihren Einsatz. Die Rede ist von Japans einzig verbliebener wahren Wildnis, einem Ort mit atemberaubender Landschaft und seltenen Tieren, auf der Insel Hokkaidô, der nördlichsten der vier Hauptinseln.

Hokkaidô ist das historische Siedlungsgebiet der Ainu, der Ureinwohner Nordjapans. Die von drei Meeren – dem Japanischen Meer, dem Ochotskischen Meer und dem Pazifischen Ozean – umgebene Insel wurde wegen der sibirischen Kälte erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als einträgliches Landwirtschaften möglich geworden war, offiziell besiedelt. Hokkaidô ist heute die größte der insgesamt 47 Präfekturen Japans, auch Namensgeber für den kleinen orangefarbenen Lieblingskürbis der Deutschen. Sapporo, die Präfektur-Hauptstadt, ist bekannt als einstiger Austragungsort der Olympischen Winterspiele.

Dort auf Hokkaidô, im äußersten Osten, liegt Shiretoko. Der Name entstammt der Sprache der Ainu, und bedeutet „Ende des Landes“ oder auch, aus damaliger wie aus heutiger Sicht, das „Ende der Welt“. Shiretoko ist eine Halbinsel, die, einem ausgestreckten Finger gleich, in das Ochotskische Meer zeigt. Ein fast 70 Kilometer langer Finger, der im Winter das Meer, einem biblischen Moses gleich, zweizuteilen scheint: linker Hand ein fester, weißer und rechter Hand ein flüssiger, blauer Ozean.

Großflächige Treibeismatten

Das Meer auf der Westseite der Halbinsel ist im Winter mit einer bis an den Horizont reichenden Eis- und Schneefläche bedeckt, das einzige an der Westküste Shiretokos gelegene Städtchen Utoro mitsamt seinem Hafen und den an Land gezogenen Booten – sie würden vom Eis zerquetscht werden – unter Schnee und einer kalten Glasur erstarrt. Ein sich jährlich wiederholendes Naturphänomen: Großflächige Treibeismatten aus Sibirien, entstanden dort, wo der russische Fluss Amur in das Ochotskische Meer mündet, passieren während ihrer Odyssee in den nördlichen Pazifik auch die Ostküste Hokkaidôs, wobei ein Teil des Wandereises von einer eigenwilligen Strömung bis an den Küstenstreifen zwischen Abashiri und Utoro geschoben wird.

Zum Leid der zwangspausierenden Fischer, zumindest derer, die nicht vom Tourismus profitieren. Zur Freude derer, die Besucher für eine „Icebreaking Cruise“ gewinnen können, sich dabei dick vermummt auf einem Eisbrecher unter harschem Knirschen, „gari-gari“ nennen die Japaner diesen Laut, den Weg durch die Packeiskruste und die beißende Kälte bahnen lassen. Oder derer, die die Neugierde der Gäste zum geführten „Drift Ice Walking“ wecken können, wobei Gruppen in Neoprenanzügen über das Meer spazieren, rutschen, schlittern, ein „Bad“ in einem Eisloch mimen oder beim „Drift Ice Hopping“ auf vereinzelte Eisschollen aufspringen. Spaßtourismus am Ende der Welt, auch das ist die Realität.

Die Ostflanke Shiretokos hingegen, um das Städtchen Rausu, an der nur die flachen Eisschollen vorbeitreiben, bleibt von der eisigen Umklammerung verschont, Fischer- und Ausflugsboote haben hier auch im Winter freie Fahrt.

An den Stränden liegen Thermal- quellen, die Onsen, die das ganze Jahr Besucher anlocken

Die Stadt Abashiri ist das Eingangstor zum Nationalpark. Hier in der einst berühmt-berüchtigten Gefängnisstadt landen heute neben dem Treibeis auch die letzte japanische Wildnis suchenden in- und ausländische Touristen mit Flugzeugen, Fähren, Zügen, Überlandbussen oder Autos. Eine Straße verläuft von Abashiri über die Stadt Shari bis zum Seebad Utoro im Westen. Eine etwa 30 Kilometer lange Straße führt weiter, aber nur Anfang Mai bis November, über den 740 Meter hohen, einen atemberaubenden Weitblick garantierenden Shiretoko-Gebirgspass bis zum eher unscheinbaren Ort Rausu an der Ostküste der Halbinsel. Dort endet die Straße.

Letze Wildniss

Zum Schutz der seltenen Wildtiere und der Naturschönheit wurde 1964 der größte Teil der fast 70 Kilometer langen Halbinsel zum Naturschutzgebiet, zum „Shiretoko-Nationalpark“ erklärt, 2005 schließlich von der Unesco zum Weltnaturerbe gekrönt.

Vom Kap Shiretoko aus, der obersten Spitze Shiretokos, zieht sich abwärts eine Reihe von Vulkanen wie ein Mittelgebirge fast die gesamte Halbinsel entlang: Shiretoko-dake, der Schwefel speiende Berg Iô-zan, der mit 1.660 Metern höchste und bis in den Sommer hinein schneebedeckte Rausu-dake, der bereits in der quartären Eiszeit entstandene Onnebetsu-dake und der Stratovulkan Unabetsu-dake.

Westlich der Vulkankette, oberhalb von Utoro, stürzt der Furepe-Wasserfall direkt in das Ochotskische Meer, etwas gespenstisch, denn man erkennt von außen keinen Zufluss. Wie auch? Ein Wasserfall, welcher sich nur von den Quellen im Inneren der Berghänge speist und erst beim Sprung ins Meer ins Freie tritt. An den Stränden liegen heiße Thermalquellen, die Onsen, die das ganze Jahr über Entspannung und Ruhe suchende Besucher anlocken.

Ansonsten teilen sich den größten Teil des Nationalparks die japanischen Sika-Hirsche, Bären, Füchse sowie die vor dem Aussterben bedrohten großen Eulen, die sogenannten Riesenfischuhus. Orcas, Pottwale, Seelöwen und Delphine tummeln sich in den reichen Küstengewässern und über 250 Vogelarten schweben über dem Himmel des schwer zugänglichen Gebietes. Besucher können fast nur zu Fuß, meist auf vorgegebenen Wanderwegen, oder mit einem Boot ihr Ziel erreichen. Teile der Halbinsel dürfen von Menschen nicht betreten werden.

Hier schläft der Braunbär

In den Sommermonaten werden von Utoro aus mehrstündige Bootstouren bis hoch zum Kap Shiretoko angeboten, entlang der 100 bis 200 Meter hohen Steilküsten, immer auf Ausschau nach den braunen Bären, die vielleicht am steinigen Ufer versuchen, frisches Meeresgetier in die Pranken zu bekommen. Auf der gegenüberliegenden Seite, vom Hafen in Rausu aus, schippern Ausflugsboote weit raus ins Ochotskische Meer, zur Walbeobachtung zwischen der Shiretoko-Halbinsel und der südlichsten ­Kurilen-Insel, um die sich Japan und Russland seit Kriegsende streiten.

Wer sich in den warmen Jahreszeiten selbst auf den Weg macht, muss vorsichtig sein. Auf der Shiretoko-Halbinsel tummelt sich die größte Braunbären-Population Japans. Die Braunbären zählen zur Grizzly-Familie, mit denen – außerhalb eines Zoogeheges – nicht zu spaßen ist. Das Shiretoko Nature Center, auf der Straße zwischen Utoro und Rausu, informiert über Verhaltensregeln bei Begegnungen mit den Bären sowie über deren Standorte, vermittelt erfahrene Natur- und Bergführer, erteilt auch Auskunft über Wander- und Kletterpfade, Drifteis-Wanderungen, Skiausflüge und die jeweils notwendige Ausrüstung für die unterschiedlichen Unternehmungen.

Der große Vogel

Reisende erhalten dort auch Informationen über Shiretoko Goko, die „Fünf Seen Shiretokos“. Auf einem aufwändig in mehreren Metern Höhe erbauten, sogar rollstuhlgeeigneten Holzplankengestell, das zusätzlich mit einem Elektrozaun ausgestattet vor den Bären schützen soll, können die Besucher, ohne das empfindsame Ökosystem zu stören und von Rangers geführt, zu den einzelnen Seen wandern, die sich mit Frischwasser aus der Tiefe versorgen, und von deren Ufer aus eine ruhige Kombination aus Seen- und Gebirgslandschaft bewundert werden kann.

In den Wintermonaten, wenn die Bären in ihren Höhlen pausieren und die Straßen von Utoro zu Shiretoko Goko und die zum Hafenstädtchen Rausu nicht passierbar sind, erwarten die Naturfreunde einen weiteren Superstar auf Shiretoko: Augen- bzw. Ohrenzeugen beschreiben die Balzlaute als möwenartiges Rufen oder Krächzen oder als eine Art von tiefem Bellen, wenn über ihren Köpfen ein oder mehrere dieser großen Vögel majestätisch mit geraden Flügeln und ausgebreiteten Schwung- und Steuerfedern vom Wind getragen kreisen.

„Großer“ Vogel scheint untertrieben, bei genauerem Hinschauen wäre „riesig“ wohl die passendere Beschreibung, denn es geht um den Riesenseeadler. Mit einer Flügelspannweite von bis zu über 2,50 Metern, annähernd die Stehgröße eines Braunbären, zählt er zu den größten Greifvögeln auf Erden. Die Erkennungsmerkmale dieser russischen Wintergäste sind das überwiegend dunkle Gefieder, dazwischen weiße Stirn, Schultern, Schwanz und die buschigen Federhosen. Der klobige Hakenschnabel und die Füße sind auffällig gelb.

Die wichtigsten Überwinterungsquartiere der Riesenseeadler liegen auf der Shiretoko-Halbinsel. Hier können sich schon mal zeitweise viele Hunderte Tiere sammeln. Die Brutgebiete liegen weiter oben, auf sibirischem Gebiet. Jedoch spätestens bevor sich das Meer mitsamt seinem Fischbestand unter dicken Eisflächen zurückzieht, machen sich die Adler andernorts auf Nahrungssuche.

Sie ziehen über tausend Kilometer südlich über die Kurilen, den „Archipel der tausend Inseln“, bis nach Hokkaidô, wo sie sich am Furen-See von den Fangresten der Eisfischer, von toten Fischen im Hafen von Rausu oder vom Aas verendeter Waldtiere ernähren werden – ganz nahe zu ihrem Winterquartier auf Shiretoko. Hier im Sammelsurium von seltenen Tieren, Insekten, Pflanzen, großen und kleinen Vögeln, Vulkanen, klarer Luft, sauberen Seen und Flüssen, umgeben von drei Meeren – hier am Ende der Welt.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.