US-Künstlerin über Schmerzmittelsucht: „Deine Seele gerät in Finsternis“

Das Schmerzmittel Oxycontin hat die Fotografin Nan Goldin fast umgebracht. Nun hat sie den Kampf gegen die Herstellerfirma aufgenommen. Ein Gespräch.

Eine Frau raucht

Selbstporträt, das erste Mal auf Oxy, Berlin, 2014 Foto: Nan Goldin

taz: Nan Goldin, im US-Kunstmagazins Artforums haben Sie einen sehr persönlichen Essay und eine Fotostrecke über Ihre Abhängigkeit vom Schmerzmittel Oxycontin veröffentlicht. Hat Sie das viel Mut gekostet?

Nan Goldin: Das hat es, aber das ist mein Leben heute. Es ist mein Leben, mein Baby. Ich bin jetzt auch eine Aktivistin in Vollzeit. Ich lerne gerade, wie das ist.

Sie schildern, wie Sie 2014, nachdem Ihnen Oxycontin in Berlin verschrieben wurde, abhängig wurden. Was hat Sie dazu bewegt, mit Ihrer Sucht an die Öffentlichkeit zu gehen?

Ich bin aus dem Krankenhaus herausgekommen, in dem ich einen Entzug gemacht habe, und begann über die Opioid-Epidemie zu lesen. Zum ersten Mal nach Jahren. Ich habe alle Artikel gelesen, die mir meine Freunde geschickt haben, und realisiert, was in den USA vor sich ging.

Was waren das für Artikel?

Artikel über die Sacklers und deren Unternehmen Purdue. Es gibt einen unglaublichen Text aus dem New Yorker mit dem Titel „The Family that built an Empire of Pain“ (Die Familie, die ein Imperium mit Schmerzen begründete). Darin wird detailliert geschildert, wie die Sacklers mit Oxycontin reich wurden und was für eine zentrale Rolle sie in der Ausbreitung der Opioid-Krise in den USA spielen. Unter dem Text ist ein Portfolio von Fotos aus einem Ort in Ohio gedruckt, der von der Krise hart getroffen worden ist, und dazu die Frage: Wo sind die Aktivisten? Aktivistin zu werden, war einer der Beweggründe für mich, clean zu bleiben. Nicht der Grund, aber einer. Ich habe Oxycontin überlebt, deshalb muss ich jetzt sprechen, und ich hoffe, damit anderen Süchtigen helfen zu können.

Kennen Sie viele andere Süchtige?

Ich kenne ein paar. Oxycontin ist keine soziale Droge. Oxycontin ist keine Partydroge. Man sitzt nicht herum und nimmt gemeinsam Oxy. Ich war während meiner Sucht meistens komplett allein. Die einzige Person, die ich gesehen habe, war mein Dealer, der mir 24 Stunden pro Tag zur Verfügung stand. Meine Entzugsklinik war außerhalb Bostons. Es gab eine Menge Todesfälle in Boston. Sechs Menschen sterben dort pro Tag. In den USA sterben jeden Tag 115 Menschen. Während wir hier sitzen, sterben Menschen.

Was für Menschen sind das?

Alle möglichen. Die Öffentlichkeit wurde auf das Problem aufmerksam, weil vor allem weiße Personen der Mittelschicht davon betroffen sind. Wäre es um arme Menschen gegangen, hätten die Nachrichten niemals darüber berichtet. Der weißen Mittelschicht wurde Oxycontin besonders häufig verschrieben. Aus Rassismus. Schwarzen, Afroamerikanern und Latinos wurden deshalb keine Pillen verschrieben, weil sie angenommen haben, diese würden davon süchtig werden.

Von all dem haben Sie erst nach Ihrem Entzug gehört?

Für drei Jahre war ich von der Außenwelt abgeschnitten. Ich war nur in meinem Zimmer und hatte keine Ahnung, was in der Welt vor sich ging. Ich wusste, dass Trump die Wahl gewonnen hatte, aber mehr nicht.

Sie haben das Haus wortwörtlich nicht verlassen?

Wortwörtlich. Außer um zum Flughafen zu kommen und in eine andere Wohnung zu fliegen und dort in einem anderen Schlafzimmer zu bleiben. Ich war in großartigen Schlafzimmern überall auf der Welt. Das war mein Leben.

An Ihrer Geschichte hat mich auch schockiert, dass Sie die Pillen zuerst in Deutschland verschrieben bekommen haben.

Wahrscheinlich sollte ich dieses Detail in Zukunft verschweigen. Es geht nicht um Deutschland. Es geht um Amerika. Das Gefährliche ist nun aber, dass die Pharmaunternehmen beginnen, ihre Produkte nach Europa und Asien zu exportieren, weil sie in den USA auf Gegenwehr stoßen. Die Ärzte in Deutschland sind zum Glück viel verantwortungsbewusster als in den USA. Am Anfang hat es durchaus Sinn ergeben, dass mir der Arzt das Mittel verschrieben hat. Ich hatte damals sehr starke Schmerzen.

Wie schnell wird man von Oxycontin abhängig?

Bei mir waren es ein paar Tage. Das sichere Anzeichen für eine Abhängigkeit ist, dass man Entzugserscheinungen bekommt, sobald man aufhört, die Pillen zu nehmen. Und dieser Entzug ist das Schlimmste, was man durchmachen kann. Deine Haut rebelliert gegen dich, jede Pore deines Körpers. Deine Seele gerät in tiefe Finsternis. Die Schmerzen sind eine Qual. Ich wünsche das niemandem. Man bekommt Entzugserscheinungen, und man braucht immer mehr. Purdue drängt die Ärzte dazu, Oxycontin in einer Dosis zu verschreiben, die alle zwölf Stunden eingenommen werden muss und die einem schnell nicht mehr ausreicht. Damit fördern sie die Abhängigkeit. Für Purdue ist das ein gutes Geschäft. Das Unternehmen hat mit dem Produkt 35 Milliarden Dollar verdient.

Wie kann es sein, dass Ärzte solche Mittel verschreiben?

Es fehlt an Aufklärung. Anfangs dachte ich, es läge in meiner eigenen Verantwortung, nicht abhängig zu werden, aber es ist nicht möglich, dieses Medikament zu bekämpfen. Es ist wirklich stark und bewirkt, dass man sich benommen und betäubt fühlt. Es ist, als würde einen ein Gewicht herunterdrücken. Gleichzeitig fühlt man sich aber auch warm umhüllt und beschützt, als ob nichts auf der Welt von Bedeutung sei.

Konnten Sie auf Oxycontin arbeiten?

Ich habe sehr viel gearbeitet in dieser Zeit. Ich habe unentwegt gemalt und gezeichnet. Einige sehr große Arbeiten sind damals entstanden, einige meiner besten, aber das war es nicht wert. Am Ende hatte ich eine Überdosis der Droge, die momentan jeder anderen Droge zugesetzt wird: Fentanyl. Ich war kurz davor zu sterben. Meine Freunde wussten, ich würde sterben, deshalb haben sie mich gedrängt, mich in Behandlung zu begeben.

Wie haben Sie es geschafft, zu überleben?

Meine Eltern starben im Alter von 101. Ich habe eine genetische Veranlagung, lange zu leben, aber wenn meine Freunde nicht gewesen wären, wäre ich gewiss gestorben. Sie haben mich zum Entzug gedrängt, und sie waren hinterher für mich da. Es ist verdammt hart, clean zu werden, und es ist verdammt hart, clean zu bleiben. Man muss ganz neu lernen zu leben. Wenn man Jahre das Haus nicht verlassen hat, ist es ein Schock wieder vor die Tür zu gehen. Alles hat sich verändert. Man muss mit Situationen umgehen, die einen verwirren.

Was für Situationen meinen Sie?

Alle. Arbeiten. Reisen. Koffer packen. Sein Haus umräumen. Die einfachsten und die schwersten Dinge. Alles muss ohne Drogen neu gelernt werden. Und das erste Mal ist das immer furchteinflößend. Auch nachts schlafen zu gehen, war neu für mich.

Wie geht es Ihnen heute?

Ich schlafe jede Nacht acht Stunden, egal was ist. Das ist Gold für mich.

Sie haben eine Gruppe namens P.A.I.N. (Prescription Addiction Intervention Now: Rezeptabhängigkeit, Intervenieren, Jetzt) gegründet, worum geht es Ihnen dabei?

Ich habe P.A.I.N. im November gegründet, und wir treffen uns jede Woche in meiner Wohnung. Anfangs kamen sieben Leute, mittlerweile ein Dutzend. Insgesamt sind wir an die zwanzig Personen. Unser Ziel ist es, die Sacklers zu erreichen. Wir planen Aktionen, hauptsächlich Guerillaaktionen, über die wir vorab nicht reden, damit die Leute nicht gewarnt sind, wir nutzen soziale Medien wie Instagram und Twitter, um Aufmerksamkeit zu schaffen, und wir haben eine Petition gestartet. Wir verlangen, dass die Sacklers Verantwortung übernehmen und ihr Geld in Suchtkliniken, in Aufklärung, Bildung und Drogenprävention stecken. Sie sollen zur Lösung des Problems beitragen, dass sie selbst verursacht haben.

Verstörend nah und schonungslos ehrlich sind die Fotografien, die Nan Goldin berühmt gemacht haben. Goldin, geboren 1953 in Washington, hat in ihnen ihr eigenes Leben und das ihrer Freunde festgehalten. Sie selbst bezeichnete ihre schnappschussartigen Bilder einmal als ein „öffentliches Tagebuch“.

Goldins bekannteste Arbeit, die Diaserie „The Ballad of Sexual Dependency“, entstanden zwischen 1980 und 1986, besteht aus über 800 Fotografien von Goldins Freunden, Bekannten und Liebhabern, Goldins „Familie“, mit der sie in den 1980ern in New York zusammenlebte.

Die Fotografin gilt als die wichtigste Dokumentaristin der Subkulturen jener Zeit, aber auch der Aidskrise. Viele Freunde Goldins starben am HI-Virus oder an einer Überdosis Drogen. Auch sie selbst war jahrelang drogenabhängig, bis ihr 1989 der Entzug gelang.

Goldins Werk wurde mehrfach ausgezeichnet, unter anderem 2007 mit dem Hasselblad Award. Heute fotografiert sie kaum noch Menschen, sondern hauptsächlich leere, apokalyptisch wirkende Landschaften. Vor ein paar Jahren hat sie außerdem zu malen begonnen.

Werke Nan Goldins sind bis 14. April in der Galerie Kewenig zu sehen. Berlin, Brüdergasse 10, geöffnet von Montag bis Samstag von 10 bis 18 Uhr (bsh)

Wie viele Menschen haben bislang Ihre Petition unterschrieben?

Wir haben momentan nur rund 31.000 Unterschriften. Sobald wir 100.000 haben, schicken wir sie zu den Sacklers. Wir brauchen eine große Zahl an Unterschriften, und wir brauchen Namen, die Gewicht haben. Wir bemühen uns momentan um Unterschriften von den Reichen, von wichtigen Menschen aus der Kunstwelt und von Leuten, die die Sacklers kennen könnten.

Wie reagieren die Sacklers auf Ihr Engagement?

Elizabeth Sackler hat mir über Artforum einen Brief geschrieben, in dem sie die Verantwortung von sich weist. Ihr Vater Arthur Sackler hätte seine Anteile vor seinem Tod an seine Brüder Mortimer und Raymond verkauft, und Oxycontin sei erst in den 1990ern erfunden worden. Tatsächlich hatte ich in der Fotostrecke für Artforum keine Bilder von Elizabeth Sacklers Flügel im Brooklyn Museum eingefügt, weil wir sie für nicht verantwortlich hielten, aber dann habe ich erkannt, wie effektiv die Werbetechniken ihres Vaters beim Verkaufen von Oxycontin und Oxycodon wirkten. Arthur Sackler war ein Werbegenie und hat die ganze Struktur entwickelt, auf der die Werbung von Purdue noch heute basiert.

Was ist mit dem Rest der Familie Sackler? Hat sich von denen niemand bei Ihnen gemeldet?

Nur Angehörige von Arthur Sacklers Teil der Familie haben sich geäußert und alle Verbindungen zu Purdue zurückgewiesen. Auch Jillian Sackler, Arthur Sacklers dritte Frau, hat mir in­zwischen geantwortet. Von den anderen Teilen der Familie kam nichts. Sprecher des Unternehmens Purdue wurden für einen Artikel um einen Kommentar gebeten, und darin hieß es, sie würden sich freuen, mich zu treffen. Kürzlich hat Purdue außerdem in der New York Times eine ganzseitige Anzeige geschaltet, in der steht, was für großartige Dinge sie tun. Zusammen mit meinen drei Anwälten haben wir eine Antwort darauf verfasst. Wir versuchen, den Brief in der New York Times oder einer anderen großen Zeitung als Leserbrief zu veröffentlichen. Wir wollen eine Diskussion starten.

In diese Diskussion beziehen Sie auch Kunst- und Kulturinstitutionen mit ein. Wieso ist Ihnen das wichtig?

Die Sacklers sponsern Museen im großen Stil. Sie sind Kunstmäzene. Das ist es, was sie interessiert. Ich nehme das in den Fokus, weil es sonst keiner tut und weil man mich in der Kunst kennt. Wenn man einen Namen hat, muss man diesen nutzen.

Sie fordern, dass die Museen und andere Kulturinstitutionen in Zukunft kein Geld mehr von den Sacklers annehmen. Gibt es darauf Reaktionen?

Nein. Einige Zeitungen haben bei den Institutionen nach einem Kommentar gefragt, aber nichts, kein Kommentar. Einzig der ehemalige künstlerische Direktor des Globe Theatre in London verfasste eine Memo an seinen Nachfolger, Zahlungen der Sacklers in Zukunft abzulehnen.

Dabei lesen die bestimmt alle das Artforum. Haben Sie das Kunstmagazin deswegen als Plattform gewählt?

Als erste Plattform. Eigentlich hat Artforum mich ausgesucht. Es war hart für mich, diese Bilder von mir zu veröffentlichen. Ich habe das nicht getan, um auf meine Fotografie aufmerksam zu machen. Ich habe lediglich die Tatsache genutzt, dass es ein Interesse an meiner Arbeit gibt.

Und Sie haben auf diese Weise der Opioid-Epidemie ein Gesicht gegeben.

Ja. Ein Psychiater, den ich in dieser Angelegenheit häufig um Rat gefragt habe, hat mir genau das gesagt: ‚Dieser Krise fehlt ein Gesicht.‘ Aber ich will nicht das Aushängeschild der Opioid-Epidemie sein. Ich möchte, dass es eine Menge Gesichter gibt. Ich möchte nicht die einzige Person aus meiner Gruppe sein, mit der die Presse sprechen will.

Was sind Ihre nächsten Schritte?

Zwei Personen aus meiner Gruppe sind Filmemacher. Mit ihnen will ich zusammenarbeiten und einen Dokumentarfilm machen. Wir sind gerade dabei, uns um Fördermittel zu bemühen. Meine Freunde wollen außerdem, dass ich alles fotografisch dokumentiere. Alle wollen, dass ich eine Diashow mache.

Klar, dafür kennt man Sie.

Ich weiß nicht, was das für eine Diashow sein soll. Ich habe nicht einmal daran gedacht, Fotos zu machen. Es ist mir nicht eingefallen, Fotografie zu nutzen, aber wenn es helfen könnte, werde ich es tun.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.