Angriffe auf eine Schutzzone in Syrien: Die Hälfte des Landes ist in Not

Kampfflugzeuge Assads bombadieren das östliche Ghouta-Gebiet. Die humanitäre Lage dort sei dramatisch wie nie, sagt UN-Koordinator Panos Moumtzis.

Zwei Männer stehen vor einem zerstörten Gebäude, im Hintergrund ist Rauch und Feuer, einer der Männer ruft etwas

Nach einem Luftangriff im syrischen Ost-Ghouta Foto: reuters

KAIRO taz | „Wenn der Tod die Spitze erreicht, sind die Gräber zu klein“, heißt es in einem syrischen Sprichwort, das derzeit häufig in Ost-Ghouta, einem von der Opposition kontrollierten Vorort von Damaskus, zitiert wird. Dort scheint man derzeit nirgends sicher zu sein. Onlinevideos, wie sie die Nachrichtenagentur Reuters verbreitet, zeigen chaotische Szenen: Menschen kommen panisch aus den Häusern gelaufen, die Verletzten, darunter auch Kinder, werden zu Krankenwagen gebracht, und währenddessen fallen weitere Bomben. Seit Tagen wird die Gegend von Kampfjets der russischen Luftwaffe und der Luftwaffe des Regimes Baschar al-Assads bombardiert. Die syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte hat dort allein am vergangenen Donnerstag 59 tote Zivilisten, darunter 15 Kinder, dokumentiert.

Das östliche Ghouta-Gebiet ist genauso wie die derzeit heftig umkämpfte Provinz Idlib in Norden des Landes eine der vorgesehenen sogenannten Deeskalationszonen. Die waren mit Russland, dem Iran und der Türkei ausgehandelt worden. Aber das Regime in Damaskus versucht nun genau diese von der Opposition gehaltenen Gebiete zu erobern – mithilfe der russischen Luftwaffe und Milizen, die vom Iran kontrolliert werden.

Die Situation dort ist so dramatisch, dass sogar die UNO sie öffentlich anprangert, die sich bisher zum Schutz ihrer humanitären Aktivitäten in Syrien eher zurückgehalten hatte. „Mit den Deeskalationszonen, die geschaffen worden waren, hatten wir zunächst die Hoffnung, dass wir dort Hilfslieferungen hinbringen können“, sagt Panos Moumtzis, der regionale UN-Koordinator für humanitäre Angelegenheiten in Syrien, im Gespräch mit der taz. „Idlib und die östliche Ghouta, das sind zwei dieser Deeskalationszonen. Aber in Wirklichkeit sind sie alles andere. Sie sind Reeskalationszonen. Wir haben dort ein dramatisches Anwachsen der Kampfhandlungen und der Not.“

Das größte Problem für die UN sei es, im Moment überhaupt Zugang zu den umkämpften Gebieten zu bekommen. Immer wenn ein Hilfskonvoi organisiert würde, erteile das Regime in Damaskus keine Genehmigung. „Seit zwei Monaten, seit dem 10. Dezember, haben wir keinen Zugang bekommen“, klagt der UN-Koordinator. Es gebe Oppositionsgebiete, die einzig von Regierungsgebieten erreichbar und ansonsten von der Außenwelt abgeschlossen seien.

„Seit 10. Dezember haben wir nichts geliefert – null“

„Nehmen wir Ost-Ghouta, dort leben 400.000 Menschen unter einer Belagerung, und wir haben seit zwei Monaten keinen Zugang mehr dorthin. 2,9 Millionen Menschen leben in solchen belagerten und für uns schwer zugänglichen Gebieten“, beschreibt er die Lage. „Diese Menschen hängen von unseren Hilfslieferungen ab. Der Zugang zu Nahrungs- und Hilfslieferungen sollte niemals dazu verwendet werden, politischen Druck zu erzeugen“, formuliert er eine Forderung, die nach internationalem Recht eigentlich selbstverständlich sein sollte.

Auch medizinische Evakuierungen seien nicht mehr möglich. Über 700 Schwerverletzte und Kranke im östlichen Al-Ghouta hofften derzeit, von der UN evakuiert zu werden, erklärt Moumtzis. Bisher ohne Erfolg. „Die östliche Al-Ghouta ist praktisch ein Vorort von Damaskus. Man müsste nur eine halbe Stunde mit dem Auto fahren und man hätte Zugang zu Krankenhäusern“, sagt er frustriert angesichts der dringend benötigten Hilfslieferungen in die belagerten Gebiete.

„Letztes Jahr haben wir es nur geschafft, 27 Prozent unseres Plansolls in diese belagerten und schwer zugänglichen Gebiete zu liefern. Das heißt, schon 2017 konnten wir drei Viertel der Leute, die dort leben, nicht helfen, weil wir keine Genehmigung dafür bekommen haben“, bilanziert der UN-Koordinator. „Seit 10. Dezember haben wir nichts geliefert – null.“

Auch in der nördlichen Provinz Idlib, die von der Opposition kontrolliert wird und derzeit einer Offensive der Regierungstruppen und massivem russischem Bombardement ausgeliefert ist, sei die Lage dramatisch. „Der Schutz von Zivilisten, Infrastruktur und humanitären Arbeitern ist lebenswichtig. Allein in Idlib haben wir 40 Vorfälle und 117 Angriffe auf Krankenhäuser erlebt“, sagt Moumtzis. Was dort passiert, könnte auch bald Folgen für Europa haben. Denn die nächste Flüchtlingswelle droht, warnt er. „Wir erleben dort eine dramatische Verschlimmerung der humanitären Lage.

Zwei Millionen Menschen an der türkischen Grenze

In Idlib leben zwei Millionen Menschen, darunter eine Million, die aus anderen Teilen Syriens geflohen sind“, beschreibt er die Lage. „Mit der letzten Offensive könnten also demnächst bis zu zwei Millionen Menschen an der türkischen Grenze auftauchen. Und wenn sie in die Türkei kommen, dann werden einige auch früher oder später nach Europa weiterwollen“, prophezeit er.

Es gebe einen Widerspruch, sagt Moumtzis. „Einerseits haben wir uns international an den Krieg in Syrien gewöhnt, andererseits war die dortige humanitäre Lage noch nie so dramatisch wie heute.“ Er fasst das in Zahlen: „Im Moment sind in Syrien 13 Millionen Menschen in einer unmittelbaren humanitären Notsituation, das ist die Hälfte des Landes. Es gibt 5,3 Millionen Flüchtlinge in den Nachbarländern. 6 Millionen Menschen sind im Land auf der Flucht, allein in Idlib sind das seit Januar über 300.000 Menschen.“

Der UN-Koordinator ist frustriert: „Wir sprechen zu tauben Ohren der humanitären Diplomatie, UN-Mitgliedstaaten, Regierungen, Hauptstädte. Sie alle sollten ihre Möglichkeiten nutzen, Druck auszuüben, um hier etwas zu verändern“, sagt er. Und dann kommt Moumtzis zu seinem Kernanliegen: Alle Kriegsparteien seien zu einem humanitären Waffenstillstand aufgerufen, „damit wir Schwerverletzte oder Kranke evakuieren können und ein wenig Frieden in eine Situation bringen, die extrem chaotisch ist“. Doch ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass auch dieser UN-Vorstoß für eine Feuerpause auf taube Ohren stoßen wird.

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