Simon Stone untersucht Strindberg: Vom Lachen der Hyänen

Simon Stones Verfahren der Textverflüssigung beschleunigt das Theater atemberaubend. Zu erleben in „Hotel Strindberg“ in Wien.

Man sieht durch die Fenster zwei von drei Etagen des Hotels auf der Bühne.

Im Hotel Strindberg spuken die Nachtmahre der Moderne Foto: Reinhard Werner/Burgtheater

Im Anfang war das Hotel. Es stellt die Einheit von Zeit, Ort und Handlung wieder her, gut hundert Jahre nachdem sie im Theater endgültig zerbrochen war. Einer der Verantwortlichen: August Strindberg (1849–1912). Am Wiener Akademietheater hat der Regisseur und Autor ­Simon Stone dessen dramatische Bruchstücke gesammelt, fein säuberlich bearbeitet und hinter Plexiglas eingelagert.

In drei mal zwei übereinander liegenden Containern stapeln sich Personen, Atmosphären und Szenenpartikel aus dem Horrorkabinett des Meisters mitleidloser Subjektbetrachtung. „Gespenstersonate“, „Der Pelikan“, „Nach Damaskus“, „Der Vater“ und mehr. Der Versuch, die Spur des Geschehens zu autoritätsspendenden Textquellen zurückzuverfolgen, endet im Schwindel.

Die Bühne ist eine Art Klonstation, die literarische Bruchware zu Zellwachstum und neuem Leben anregt. Diesen Zauber bewirken soll Simon Stones Theatertextmethode. Er schreibt Stücke aus der Erfahrung der Gegenwart wie der Bühnenarbeit immer wieder neu, um den Klassikern ihre Weisheit erst zu entreißen. Die Innereien des „Hotels Strindberg“ sind in vitrio gleich mehrfach angesetzt und nichtlinear abrufbar. Stone lehrt das Thea­ter in fünf Stunden und zwei Umbaupausen die Rezeptionsform des Binge-Watching.

Am Autonomieversprechen berauscht

Nach Ibsens „Jan Gabriel Borkman“ und Tschechows „Drei Schwestern“ sind in dieser Zusammenarbeit des Wiener Burgtheaters mit dem Thea­ter Basel nun die Spaltprodukte des schwedischen Feuerkopfs und Visionärs an der Reihe. In der sittsamen Welt des Nordens hielt es Strindberg nie lange. Immer wieder brach er nach Süden auf und in die Moderne. Ihr Autonomieversprechen berauschte ihn ebenso wie die dünne Luft, die das Subjekt nun umgibt, ihn bis zur Psychose erschütterte.

Seine Zeit ist die der fortschrittlichen Reaktionäre oder reaktionären Fortschrittsgläubigen. Der Übergang zwischen Okkultismus und sexueller Befreiung, Sozialismus und arischem Jungmännerkult an Lagerfeuern im österreichischen Waldviertel erstreckt sich oft nur über wenige Buchseiten. Und wenn alles schiefging, lag’s an den Frauen. Ihre Befreiung ersehnte er so drängend, wie seine Angst, sich in Lust aufzulösen, zu blankem Hass gegen sie umschlug.

Die Hyänen der bürgerlichen Gesellschaft umschleichen einander ebenso wie vor hundert Jahren und stoßen lachende Laute aus

Das Containerdorf von Alice Babidge (Bühne und Kostüm) packt die Nachtmahre vom Beginn der Moderne in ihre späten ernüchternden Resultate. Die Durchdringung der Welt mit Vernunft bringt vor der Freiheit den ökonomischen Nutzen. War die Moderne eher rationell als rational? In den adretten Wohlstandsschließfächern geht es hyggelig zu wie in den Ausstellungskojen der Möbelhäuser, die ihre Kundschaft duzen. Mit einem Wort: zum Grausen.

Die Schlachten monogamer Zugewinngemeinschaften

Das tut es Alfred (Martin Wuttke) schon lange. Der verkrachte Drehbuchschreiber schaut wie Peeping Tom per Teleobjektiv in den Park, wo er angeblich Frauen sieht, die ihre Männer grundlos schlagen. Noch so ein greinender #MeToo-Geschädigter oder nur die Erkenntnis, dass hinter jeder Gewaltfantasie der Selbstbestrafungswunsch eines Jammerlappens steht?

Charlotte (Caroline Peters) war mal Schauspielerin, wahrscheinlich auch verkracht. Die Tochter macht Konzeptkunst mit pornografischen Inhalten und Schulden auf der elterlichen Kreditkarte. Virtuos schlagen Peters und Wuttke die Schlachten einer monogamen Zugewinngemeinschaft. Den eigenen Kontrapunkt bilden sie als zittriges Greisenpaar, das über Euthanasie sinniert.

In Zeiten wie diesen ist das Empathievermögen der Gattung Mensch enden wollend. Eine Ehefrau (Barbara Horvath) lauscht ungerührt der versagenden Stimme der schwangeren Nebenbuhlerin (Franziska Hackl), die gerade eine Überdosis eingeworfen hat. Der Lauf der Gene ist unsicher und immer ist jemand Drittes im Spiel, manchmal wie in „Der Pelikan“ die eigene Mutter (wiederum Peters), die den Frischverlobten unter sich begräbt.

Der Zwang zur ständigen Selbsterfindung

Im blassgrünen Leuchtstoffröhrenlicht der Treppencontainer spukt der Concierge (Roland Koch) herum, orchestriert die Gespenstersubjekte, etwa den Dichter, der seine Exfrau getötet haben will (Michael Wächter gegen Aenne Schwarz) oder mutiert, wenn’s passt, zum „anderen Mann“.

Der Terror der Autonomie, der Zwang zur ständigen Selbsterfindung, bei Strindberg noch das Problem der modernen Künstlerexistenz, ist zum Gemeingut geworden. Hier funktioniert Simon Stones Durchstich durch die Zeitspalte unter Umgehung aller hermeneutischen Zirkel verblüffend. Die Hyänen der bürgerlichen Gesellschaft umschleichen einander ebenso wie vor hundert Jahren und stoßen lachende Laute aus, wenn der Geruch gerade in Verwesung übergehenden Fleisches an ihre Nase dringt. Vielleicht halten sie deswegen ihre Probleme für zeitlos.

Wird dann doch historisches Gefälle zwischen einst und jetzt sichtbar, gerät die Unternehmung schnell zur belanglosen Nacherzählung. Simon Stones Verfahren der Textverflüssigung beschleunigt das Theater in atemberaubender Weise und liefert einem inspirierten Ensemble brillante Spielvorlagen. Zugleich nimmt es ihm den Widerstand in der Form, der es erst möglich macht, die Dinge der Welt, die immer das Andere des Theaters sind, in sich einzuverleiben und zu verwandeln. Zur Unzeit kehrt das Drama auf die Bühne zurück, wo wir es längst zu Hause streamen.

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