Kolumne Lügenleser: Ihr seid die Süchtigen

Ich habe mich meiner Sucht gestellt und verzichte auf das Kommentieren im Internet. Dafür trinke ich jetzt wieder Alkohol. Ist gesünder!

Alkoholverbotsschild im Design eines Verkehrsschildes

30 Tage keinen Alkohol trinken? Jetzt reicht's mir Foto: dpa

Ich bin enthaltsam. Einen ganzen Monat schon, der übliche Schwachsinn, den einem die „Fit for Fun“-Gesellschaft zum Jahresanfang so unterjubelt. Kein Alkohol oder andere berauschenden Mittel. Leicht ist es nicht. Das bisherige Ergebnis: Ich habe plötzlich angefangen regelmäßig zu rauchen. Das ist merkwürdig, da ich sonst nur ein Gelegenheitsraucher bin, beunruhigt mich aber nicht. Schließlich geht es bei meinem Selbstversuch darum, bestehende Süchte zu bekämpfen. Eine neue Sucht hingegen muss erst einmal ausgebaut werden bevor man sie angreift, so die Logik.

In meiner letzten Kolumne habe ich ebenfalls eine Sucht thematisiert. Die Sucht des Kommentierens, des ewigen Bedürfnisses die eigene Meinung in die Tasten zu hauen und einen Kampf im Internet auszutragen, der überflüssiger nicht sein könnte. Lieber sollte man sich wieder mit echten Menschen an reellen Orten unterhalten. „Schaltet die Kommentarfunktion ab!“ forderte ich und erntete – wer hätte das erwartet –, neben sehr viel Zuspruch auch unzählige empörte oder spitzfindige Kommentare.

Von „Oft sind Kommentare interessanter und gehaltvoller als die Artikel. Ich lese manchmal die Artikel über den Kommentaren gar nicht“ (Modell „Facepalm Prototyp“) über „Wie soll man am Stammtisch klären können, warum ein Hochhaus aus Stahlträgern wie pulverisiert, plötzlich zu Staub verfällt?“ (Model „YouTube-Professor“) bis „Merkt der Autor eigentlich dass er einen Kommentar darüber schreibt, dass man keine Kommentare schreiben soll?“ (Modell „Verkanntes Genie“).

Potzblitz! Wollte der Autor etwa mit seiner polemischen Forderung in Wirklichkeit nur eine Internetdiskussion anstoßen, um nochmals deutlich zu zeigen, was das eigentliche Problem an dieser Funktion ist? Eine geradezu wahnwitzige These, aber wer weiß. „Quod erat demonstrandum“ hätte ein neunmalkluger Facebook-Profi, in dessen Profil so tiefgründige Infos wie „Ausbildung bei: Schule des Lebens“ zu finden sind, als Antwort auf die meisten kritischen Stimmen gepostet und „Treffer, versenkt!“ in seinen Bart gemurmelt. Dabei war das Ergebnis des Experiments vorhersehbar, denn irgendwer schreibt immer irgendwas. Es ist eine Sucht. Und ihr seid die Süchtigen, seht es ein.

Diese Sucht, dieses unbändige Verlangen, auf jeden Troll oder nervtötenden Schwachkopf antworten zu müssen, ist der Kollateralschaden des siegreichen Internetfeldzugs. Ich persönlich habe mich der Sucht gestellt. Nachdem ich von der Frau die ich liebe ein Streitverbot für das Internet erteilt bekommen habe („Wie sieht das denn aus, wenn die Leute sehen dass mein Freund sich bei Facebook mit wildfremden Menschen streitet?“), ist es wesentlich besser geworden. Diese Kolumne ist die Oase in meiner Streitwüste, das letzte Fleckchen fruchtbaren Bodens, auf dem die Schlingpflanze namens „Virtuelle Meinung“ noch gedeiht. Dafür trinke ich seit gestern wieder. Man kann nicht alles haben.

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Juri Sternburg, geboren in Berlin-Kreuzberg, ist Autor und Dramatiker. Seine Stücke wurden unter anderem am Maxim Gorki Theater und am Deutschen Theater in Berlin aufgeführt. Seine Novelle "Das Nirvana Baby" ist im Korbinian Verlag erschienen. Neben der TAZ schreibt er für VICE und das JUICE Magazin.  

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