schlagloch
: Letztes Schuljahr: Europa

Gegen den Zerfall Europas könnte ein europäisches Sozialjahr für alle jungen Frauen und Männer des Kontinents helfen

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MathiasGreffrath

lebt als freier Autor für Print und Radio in Berlin. Er ist Herausgeber von „RE: Das Kapital – Politische Ökonomie im 21. Jahrhundert“ (Kunstmann, 2017).

Die

Schlagloch-Vorschau:

17. 1., Georg Seeßlen

24. 1., Nora Bossong

31. 1., Charlotte Wiedemann

7. 2., Jagoda Marinić

Wer auch immer uns demnächst wie auch immer regieren wird: Auch in diesem Jahr werden wir in unschöner Regelmäßigkeit das Schwinden des gesellschaftlichen Zusammenhalts konstatieren, die Unzulänglichkeiten bei der Integration von Flüchtlingen und die prekären Berufsaussichten der jungen Generation oder wahlweise ihr fehlendes politisches Engagement. Der Pflegenotstand wird uns beschäftigen, die Verwahrlosung der sozialen Einrichtungen und staatlichen Dienstleistungen. Und natürlich werden wir die Stagnation Europas beklagen.

Ich möchte deshalb an dieser Stelle zwei kleine Vorschläge, die 2017 gemacht wurden und untergingen, aber angetan sind, einige dieser Malaisen zu lindern, ins Aufgabenbuch der Sondierer übertragen – ich gebe zu, ohne allzu große Erwartungen. Aber mit einem irrwitzigen Rest an Hoffnung, dass einiges von der widerstandsfreien Vernunft der Leitartikel von den Mühseligen in den Mühlen der Wirklichkeitsgestaltung kleingemahlen wird.

„Ich bin gekommen, um über Europa zu sprechen.“ So begann im September Emmanuel Macron seine Rede vor den Studenten der Sorbonne. Gegen die Zerfallserscheinungen der EU schlug der französische Präsident sehr konkrete Schritte zum Ausbau Europas vor. Ohne aktive Europa-Bürger jedoch, so beendete er seine Rede, die nicht nur europäisch reisen und konsumieren, sondern europäisch denken und fühlen lernen, werde nichts aus Europa.

Um eine solche Öffentlichkeit zu fördern, schlug er Folgendes vor: Bis 2024 solle die Hälfte einer Altersgruppe, ob nun Studierende oder Auszubildende, bis zu ihrem 25. Lebensjahr mindestens sechs Monate in einem anderen europäischen Land verbracht haben. Merkwürdigerweise ist über diesen konkretesten Europa-Vorschlag des französischen Präsidenten fast gar nicht berichtet worden.

Dabei ist die Idee bestechend, aber da sie auf die individuelle Qualifikation, Beruf und Karriere zielt, greift sie etwas zu kurz. Denn zum Bürger Europas wird man erst, in dem man europäisch handelt. Vor einigen Jahren schlugen deshalb der Soziologe Ulrich Beck und der Politiker Daniel Cohn-Bendit ein europaweites freiwilliges soziales Jahr vor.

Es wurde nichts daraus, außer einem kleinen Pilotprojekt, aber auch diese Initiative scheint mir nicht radikal genug. Denn das große Manko von Freiwilligendiensten ist – gerade ihre Freiwilligkeit. Denn die Initiativen erreichen im Wesentlichen diejenigen Jugendlichen, die ohnehin schon europäisch denken und weltoffen sind – ein Beispiel hierfür sind die Erasmus-Studenten – aber kaum die jungen Frauen und Männer mit Haupt- oder Realschulabschluss.

Wie wäre es also, wenn man ein allgemeines und obligatorisches Jahr der Bürgerarbeit als integralen Teil der Bildung zwischen Schule und Beruf ins Visier nähme, gleichsam als letztes Schuljahr, europaweit und grenzübergreifend? Als letztes Schuljahr – das würde auch alle Bedenken über Zwangsdienst, verlorene Jahre und so weiter vorab entkräften.

Im Sommer hat das größte Sozialunternehmen Deutschlands, die Bodelschwinghschen Stiftungen zu Bethel, vorgeschlagen: Jeder Schulabgänger in der Bundesrepublik solle ein obligatorisches soziales Jahr absolvieren – nicht nur in Institutionen für Alte, Behinderte oder Kranke, sondern in einer Vielzahl von Feldern: von Kindergärten über Schulen, Beratungsdienste aller Art, ökologische, kulturelle und urbane Projekte, technische Hilfsdienste bis zu Museen, Bibliotheken … Auch dieser Vorschlag aus Bethel zielt auf ein europäisches Projekt, Deutschland könne aber durchaus Vorreiter sein.

Ein europäisches Sozialjahr, in dem tendenziell alle jungen Frauen und Männer des Kontinents gesellschaftliche Erfahrungen sammeln – und zwar in der Regel in einem anderen als ihrem Herkunftsland: Ich finde das eine faszinierende Idee. Es würde Millionen jugendlicher Arbeitsloser aus der Untätigkeit holen, ihnen Basisqualifikationen vermitteln und ihr Selbstwertgefühl stärken. Ein europäischer Sozialdienst würde sie mit den Problemen konfrontieren, die grenzübergreifend bearbeitet werden müssen: Klimawandel, Umweltzerstörung, Flüchtlingsbewegungen.

Nach einem solchen Jahr hätten sie vermutlich einen klareren Blick auf die Welt und einer deutlichere Vorstellung über ihre Berufsperspektive als nach einem Jahr als Farmhelfer in Australien oder Backpackerin in Lateinamerika. Die Einbeziehung der Millionen von Migranten und Asylbewerbern in diesen europäischen Bürgerdienst würde die Integration der jugendlichen Zuwanderer erleichtern und die jahrelange problematische Phase der Untätigkeit abschaffen.

Zum Bürger Europas wird man erst, indem man europäisch handelt

Wenn man die jungen Menschen nicht nur irgendwie beschäftigen wollte, sondern ihnen wirkliche Arbeit geben, sie ausreichend entlohnen würde und erfahrene Coaches, Ausbilder und Tutoren an ihre Seite stellen würde, dann müsste der EU-Haushalt von einem Prozent des europäischen Sozialprodukts auf anderthalb Prozent erhöht werden. Aber wäre das ein zu hoher Preis dafür, dass Millionen junger europäischer Bürgerinnen und Bürger zu wirklichen Bürgern Europas würden?

Sie würden Bürgerinnen und Bürger eines Europa, in dem junge Iren eine Zeit lang in Rumänien Kinder betreuen, Spanierinnen in Deutschland Schulen renovieren, Dänen in Portugal Ölbäume pflanzen, Deutsche in griechischen Bibliotheken den Nachtdienst versehen, Schottinnen süditalienischen Computeranalphabeten auf die Sprünge helfen, Holländer in Albanien Solardächer montieren oder Italiener in Finnland alte Menschen versorgen.

Das wäre wirklich eine Neukonstitution Europas von unten, die eine soziale und politische Wende in Europa bewirken könnte, ja aufs Neue die Begeisterung eines Anfangs entfachen könnte.