Kurt Beck über ein Jahr Breitscheidplatz: „Das Gefühl, verlassen zu sein“

Als Opferbeauftragter kümmert sich Kurt Beck um Opfer und Hinterbliebene des Anschlags auf dem Berliner Weihnachtsmarkt. Es gebe noch viel zu lernen, sagt er.

Schablonen für Anschlagsopfer

Die Namen der Todesopfer des Anschlags auf den Berliner Weihnachtsmarkt werden auf dem Mahnmal zu sehen sein Foto: reuters/Axel Schmidt

taz am wochenende: Herr Beck, am 19. Dezember jährt sich der Anschlag auf dem Berliner Breitscheidplatz. Sie betreuen als Beauftragter der Bundesregierung die Opfer und Angehörigen. Wie blicken diese auf diesen Tag?

Kurt Beck: Auf der einen Seite mit größten Sorgen, dass alles wieder hochkommt. Auf der anderen Seite mit einer gewissen Zufriedenheit, dass es an diesem Tag um ihre Angehörigen geht, um die Verstorbenen und Verwundeten und nicht so sehr, wie sonst, um den Täter.

Wie geht es den Betroffenen?

Das Geschehen ist noch sehr, sehr nah. Wenn es Nachrichten über einen Terroranschlag irgendwo auf der Welt gibt, dann ist es bei den Leuten wieder wie gestern. Es vernarbt sehr schwer. Einige Betroffene pendeln immer noch zwischen stationären und ambulanten Behandlungen. Einige sind in Rehabilitationen, sehr viele wegen seelischer Erkrankung in Behandlung, manche werden für immer Pflegefälle bleiben.

Am Jahrestag wird am Tatort eine Gedenkstätte eingeweiht, die die Namen der zwölf Mordopfer des Anschlags nennt. War das strittig?

Gar nicht. Es war schnell klar: Die Namen sollen deutlich an diesem Gedenkort erkennbar sein. Das war hoch angesiedelt bei den Hinterbliebenen, sie waren in die Gestaltung des Ortes einbezogen. Sie wollten, dass es um die einzelnen Menschen geht, die aus dem Leben gerissen wurden.

Tatsächlich kennt jeder den Namen des Täters. Über die Opfer ist kaum etwas bekannt. Ist das falsch?

Viele Angehörige haben sich am Anfang zurückgezogen und wollten sich nicht ausschlachten lassen. Ich glaube, das war richtig so. Viele befinden sich in Traumatherapien, da ist jede Konfrontation mit dem Thema ein großes Risiko. So ist die Diskrepanz entstanden, dass man viel über den Täter und wenig über die Opfer weiß.

Liegt diese Diskrepanz auch an uns Journalisten? Wird bei Terror zu viel über die Täter berichtet und zu wenig über die Opfer?

Der Anschlag Am 19. Dezember 2016 raste der Tunesier Anis Amri mit einem Lkw in den Weihnachtsmarkt am Berliner Breitscheidplatz. Elf Menschen starben, knapp 100 wurden verletzt. Den Lkw-Fahrer hatte Amri zuvor erschossen. Es war der schwerste islamistische Anschlag in Deutschland. Amri galt bei der Polizei als Gefährder, die Ermittler machten gravierende Fehler. Vier Tage später wurde Amri in Italien von einem Polizisten erschossen.

Die Opfer In einem offenen Brief an Bundeskanzlerin Angela Merkel werfen die Hinterbliebenenen aller zwölf Mordopfer der Regierung Untätigkeit vor. Bis heute habe ihnen Merkel nicht kondoliert, die Anti-Terror-Arbeit in Deutschland sei mangelhaft, die Entschädigungssummen für die Opfer seien zu gering. Merkel will sich einen Tag vor den Gedenkfeiern zum Jahrestag des Anschlags mit den Opfern treffen.

Der Beauftragte Bundesjustizminister Heiko Maas hatte im März den SPD-Politiker und ehemaligen Ministerpräsidenten von Rheinland-Pfalz Kurt Beck als Opferbeauftragten der Bundesregierung eingesetzt. Kommende Woche wird er den Abschlussbericht zu seiner Tätigkeit vorlegen.

Das Gedenken Am Jahrestag des Terroranschlags wird am Breitscheidplatz im Kreis der Hinterbliebenen und Überlebenden das Mahnmal für die Todesopfer eingeweiht. Ihre Namen werden an den Stufen der Gedächtniskirche eingraviert, ein goldfarbener Riss im Boden soll an sie erinnern. In der Gedächtniskirche wird es eine Andacht sowie eine öffentliche Veranstaltung am Mahnmal geben. Im Abgeordnetenhaus ist eine Gedenkstunde geplant.

Die Medien haben, bis auf Ausnahmen, über die Opfer vom Breitscheidplatz sehr angemessen berichtet. Ich glaube, dass Zurückhaltung richtig ist. Manche der Verletzten und Hinterbliebenen sind psychisch zusammengebrochen, wenn ich mit ihnen die Fakten für Anträge gesammelt habe.

Sehr zurückhaltend reagierte auch die Bundesregierung. In Frankreich lief nach dem Anschlag auf Charlie Hebdo auf einer Demonstration der Staatspräsident voran. Als der Leichnam eines italienischen Opfers vom Breitscheidplatz überführt wurde, wurde dieser vom Staatspräsidenten empfangen. Vor dem Sarg des polnischen Opfers kniete ebenso der Staatspräsident. In Deutschland fehlte diese Anteilnahme. Ein Fehler?

Es gab auch hier einen Gedenkgottesdienst, es gab ein Gespräch mit dem Bundespräsidenten und einen Brief des Justizministers an die Opfer. Aber vieles erfolgte erst Wochen später. Auch ich wurde erst im März als Beauftragter berufen. Inzwischen sind wir uns wohl alle einig, dass das zu spät war. Da hatte sich bei vielen Betroffenen schon das Gefühl eingestellt, verlassen zu sein. Viele hätten sich ein deutlicheres Zeichen der Staatsspitze gewünscht. Über die Frage der öffentlichen Anteilnahme müssen wir reden.

Was ist Ihr Appell?

Es hätte wiederholter öffentlicher Zeichen bedurft und es bedarf ihrer weiter: da zu sein, für Gespräche offenzustehen. Anteilnahme ausdrücken und Entschlossenheit, die Dinge aufzuklären und Prophylaxe für die Zukunft zu entwickeln. Den Hinterbliebenen wären solche Zeichen viel wert gewesen. Um den 19. Dezember bietet sich die Chance, einiges nachzuholen. Aber das Sichverlassenfühlen der Betroffenen ist nicht mehr ganz aufzuarbeiten.

Warum kamen die Zeichen nicht?

Das war kein böser Wille. Aber wir haben wenig Erfahrung im Umgang mit solchen Terrorgeschichten. Es gab diese Zeichen bei großen Unfällen, dem Zugunglück in Eschede etwa. Aber ein Terrorakt, diese Absichtlichkeit, ist etwas anderes. Hier ist auch die Garantie des Staates, alles für die Sicherheit seiner Bürger zu tun, tangiert. Deshalb ist er noch stärker gefordert, ein Zeichen zu setzen. Das müssen wir noch erlernen.

Es gab ja bereits eine Terrorserie mit zehn Toten: den NSU. Warum wurde daraus nichts gelernt?

Dieser Text stammt aus der taz.am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und rund um die Uhr bei Facebook und Twitter.

Daraus wurde sicher etwas gelernt. Aber es gibt bis heute eine Unsicherheit, wie man mit solchen Terror­akten umgeht.

In Berlin versuchte man nach dem Anschlag, weiterzumachen und sich vom Terror nicht aus der Bahn werfen zu lassen. Ist das vielleicht falsch?

Nein, ich glaube, dass dieser Teil der Reaktion gescheit war. Weil man damit die Rechnung der Terroristen nicht aufgehen lässt, die Gesellschaft zu verändern. Viele Leute aus der ganzen Republik haben Anteilnahme gezeigt, auch materiell. In Berlin haben Geschäftsleute viel Geld gesammelt. Es gab Spenden, über den Weißen Ring, die Kirchen, die Opferhilfe Berlin bis hin zu einer Familie, die einer jungen Frau, die beide Eltern verloren hat, das Studium durchfinanzieren wird. Oder Leute, die gesagt haben: Ich habe eine Ferienwohnung an der Ostsee, die stelle ich einer Familie, die einen Angehörigen verloren hat, zur Verfügung.

Bis heute ist nicht ganz klar, ob die Sicherheitsbehörden den Attentäter nicht hätten stoppen können. Wie sehen die Betroffenen das?

Mit einer Mischung aus Ungläubigkeit, Ärger, Wut, Entsetzen. Sie fragen sich: Wie kann man jemanden aus den Augen verlieren, bei dem intensive Überwachung vereinbart ist? Und wenn danach noch Polizeiberichte gefälscht werden, ist das für die Betroffenen ein Schlag ins Gesicht.

Und was sagen Sie den Leuten?

Ich kriege dieses Entsetzen oft ganz persönlich ab, die Leute wollen ja auch ihren Ärger loswerden – und sonst ist niemand vom Staat für sie greifbar. Ich höre meist erst mal nur zu. Diese hochemotionalen Momente sind ja nicht diejenigen der Argumentation. Bei einem weiteren Gespräch versuche ich, manches zu relativieren.

Relativieren? Sie selbst sehen keine Ermittlungsfehler?

Doch, da ist vieles gründlich schiefgelaufen. Es hätte zumindest eine Chance gegeben, den Anschlag zu verhindern, wenn man Anis Amri festgenommen hätte. Dass das nicht probiert worden ist, ist furchtbar, einfach furchtbar.

Parallel läuft auch eine politische Debatte. Der Anschlag wurde mit der Flüchtlingspolitik verknüpft, die AfD sprach von „Merkels Toten“. Wie positionieren sich die Opfer dazu?

Einzelne haben sich von solchen populistischen Aussagen eine Zeit lang mitreißen lassen. Andere, wie der Vater eines jungen Mannes, der ums Leben gekommen ist, hat mir gesagt: Damit will ich nichts zu tun haben. Doch bei allen tritt die politische Betrachtung hinter den Schmerz zurück.

Gibt es ein Schicksal, das Sie besonders berührt?

Wenn ich darüber nachdenke, springe ich gedanklich von einem zum anderen. Da ist die junge Frau, die beide Eltern verloren hat, sie steht jetzt ganz allein da. Oder ein Mann um die 40, der wohl ein Leben lang schwerstbehindert sein wird. Ich habe ihn besucht. Bisher ist außer der Bewegung der Augen keine bewusste Reaktion feststellbar. Was geht mir näher? Das kann ich nicht beantworten.

Was können Sie für die Opfer tun?

Zum einen geht es um materielle Hilfe, um Unterstützung bei Anträgen. Zu schauen, dass die Leute an die Möglichkeiten kommen, die ihnen zustehen. Zum anderen oft einfach ums Zuhören und Erinnern, um das Zeigen von Anteilnahme. Wer wollte, den habe ich zu Hause besucht.

In wenigen Tagen wollen Sie einen Abschlussbericht zu Ihrer Arbeit vorlegen. Was wird Ihr Fazit sein?

Wir brauchen eine Beratung vor Ort in Anschlagsfällen. Es hat Leute gegeben, die haben drei Tage lang nicht gewusst, ob ihr Angehöriger tot ist oder nicht – obwohl die Identifizierung möglich war, weil die Opfer etwa Papiere bei sich hatten. Da bin ich mit dem BKA in Verbindung. Dann, in der zweiten Phase, braucht es eine dauerhafte Ansprechstation. Leute aus den Ministerien, die fachlich qualifiziert und sofort da sind. Und eine ehrenamtliche Vertretung obendrauf, die außerhalb der Beamtenhierarchie steht. Zudem muss die Höhe der Direkthilfe und des Schadensausgleichs deutlich angepasst werden.

Die Direkthilfe liegt derzeit bei 10.000 Euro, der Schadensausgleich bei 25.000 Euro. Ist das zu wenig?

Ja, gerade im internationalen Vergleich. Da bräuchten wir eine deutliche Erhöhung. Und wir brauchen einen neuen Hilfsfonds. In diesem Fall wurde zum Glück politisch entschieden, dass die Verkehrsopferhilfe greift, weil die Tat mit einem Lkw begangen wurde. Doch was wäre gewesen, wenn dort eine Bombe gelegt worden wäre? Dann wäre ein großer Teil des Geldes, mit dem materielle Schäden abgedeckt wurden, nicht da gewesen.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.