Aus der Türkei geflüchtet: Dein Staat, dein Feind

Sie dienten ihrem Land, dann mussten sie vor ihm fliehen. Vier Diplomaten und Staatsbedienstete berichten über ihre Angst im Exil.

Der türkische President Recep Tayyip Erdogan bei einer Zeremonie, hinter ihm wehen türkische Fahnen

Recep Tayyip Erdogan bei einer Feier zu Ehren Atatürks, dem Gründungsvater der Türkei. Wer heute Feind und Freund der Nation ist, hat Erdogan festgelegt Foto: ap

BERLIN taz | Das Treffen gestaltete sich schwieriger als gedacht. Einen Ort zu finden in Berlin, an dem nicht so viele Türken sind? Eine komplizierte Aufgabe. Deshalb steht der Diplomat in einem Café im Stadtteil Dahlem, unweit der Freien Universität, wartet auf seinen Kaffee und sagt: „Natürlich werde ich Ihnen alles erzählen, dieses Unrecht muss doch seinen Weg in die Öffentlichkeit finden.“

Er ist ein sichtlich nervöser schlanker Mann mit kurzen schwarzen Haaren und randloser Brille. Er lässt sich von einem Vertrauten begleiten, der sich hier in Berlin um viele Fälle wie seinen kümmert. „Natürlich dürfen Sie alles mitschreiben, aber …“ ist einer der ersten Sätze, die der geschätzt 45-Jährige mit verhaltener Stimme sagt. Name, Beruf, Alter – Angaben, die sonst gut funktionieren, um eine Person zu beschreiben, all das bittet er wegzulassen. Deshalb ist er für diesen Text der Diplomat.

Was der Diplomat erzählt: 18 Jahre lang war er im Staatsdienst der Türkei, davon fünf in einem Land im Nahen Osten. Sein Fachgebiet: Ein politisch sensibler Bereich im Umfeld der Türkei, mehr will er nicht verraten. Ob er sich ausweisen könne? Seinen grauen Diplomatenpass hat die Ausländerbehörde einbehalten, erklärt er fast entschuldigend. Er zieht ein blassgrünes Papier aus der Tasche seiner Winterjacke hervor, die Aufenthaltsgestattung für Asylbewerber. Mit dem rechten Zeigefinger überdeckt er seinen Namen, schnell verschwindet das Schriftstück wieder in der Jacke.

Seit knapp einem Jahr lebt der Diplomat in Deutschland. Er ist geflohen, vor dem Staat, dem er sein Berufsleben lang diente und der ihn nun als Feind betrachtet. Sein Asylbescheid wurde innerhalb von acht Tagen beschieden – positiv. Seine Familie lebt noch in der Türkei, an einem Ort, an dem sie kaum jemand kennt. Über WhatsApp halten sie Kontakt, schicken sich Sprachnachrichten. Nur selten geschriebene. Der Diplomat vermutet, dass sie abgehört werden, wenn nicht er, dann seine Familie. Trotzdem können sie nicht auf diese winzigen Momente der Nähe verzichten. Sonst haben sie ja nichts.

Die Gesellschaft zerlegt in Freund und Feind

Nach Angaben des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge stellten bis Ende August dieses Jahres 249 Personen mit Diplomatenpässen und 365 Dienstpassinhaber mit grünen Pässen, also höhere Beamte, einen Asylantrag. In diesen Zahlen versteckt sind auch die Familienangehörigen derjenigen, die bis zum letzten Jahr noch für die Regierung Erdoğans arbeiteten. Auch sie genossen den besonderen Status.

Der Putschversuch in der Türkei am 15. Juli 2016, bei dem über 260 Menschen starben, zerlegte die Gesellschaft in Freunde und Feinde. Freund ist, wer der Regierungslinie glaubt und sie verteidigt. Die Feindschablone ist mit dem Putsch komplizierter geworden: Feinde, das sind nicht mehr nur die Terrororganisation PKK und oppositionelle Gruppen wie Linke und Kurden. Sondern auch ehemalige Freunde der Regierung, wie die Anhänger der religiösen Bewegung des Fethullah Gülen. Für den Putsch scheinen sie verantwortlich zu sein. Mit dem Vorwurf, zur Terrororganisation FETÖ (Fethullahistische Terrorganisation) zu gehören, befinden sich über 50.000 mutmaßliche Anhänger, aber auch Kritiker der Gülen-Bewegung in Haft.

Der Diplomat

„Dieses Unrecht muss doch seinen Weg in die Öffentlichkeit finden“

Nach dem Putschversuch in der Türkei ist die Zahl der Schutzsuchenden in Deutschland erheblich gestiegen: Waren es im Jahr 2015 noch etwas über 1.700 Menschen, die Asyl beantragten, stieg die Zahl im Jahr 2017 auf 4.700. Doch der Anteil positiv beschiedener Asylanträge ist gering: Von 8.547 wurden 5.040 abgelehnt.

Der Diplomat ahnte schon früh, dass es zu einer Abrechnung mit den mutmaßlichen Feinden der Regierung kommen würde. Im März 2014, von einem Tag auf den anderen, wurden er und seine Kollegen aus dem Auslandsministerium in Ankara in den passiven Dienst verschoben, wie er es nennt. „Es gab damals Gerüchte, dass eine neue Dienststelle für alle unliebsamen Staatsbeamten geschaffen wird. Zwei Monate später wurden wir in die neue Behörde entsandt. Sie trug den schicken Namen Kommission für sektorelle Studien und Auswertungen, aber unter uns Beamten hieß die Behörde nur Konzentrationslager.“ Der Vergleich mit dem Faschismus in Deutschland, er tritt in Gesprächen mit Menschen aus der Türkei öfter auf.

Wenn ein Pass dich rettet

Der Diplomat erzählt weiter: Wer einen der wenigen Tische oder Stühle aus dem Innenhof des Gebäudes in sein Büro schleppte, konnte sich glücklich schätzen. Was es nicht gab: Rechner, Telefone, Akten. Nichts, was Arbeit bedeutete. Sie hätten viel Zeit mit Gesprächen totgeschlagen. „Stellen Sie sich das mal vor: Dort fand sich die höchste Ebene der staatlichen Ministerien ein und keiner von uns wusste, warum wir dort waren. Zu zwei Dritteln waren es Beamte aus der Gülen-­Bewegung. Der Rest waren Aleviten, Kurden, Linke und nur wenige Frauen.“ Später erfährt er, dass ein ähnliches Sammelbecken mit kaltgestellten Beamten in Istanbul existierte.

Der Diplomat hatte zu den Ersten gehört, die per Notstandsdekret entlassen wurden, nur einen Tag nach dem Putschversuch. Als ihm Ende August ein Haftbefehl zugestellt wurde, entschloss er sich, zu fliehen. In einer Septembernacht vor einem Jahr bestieg er ein Flüchtlingsboot nach Griechenland. Darin: 20 Afghanen, Iraker, Syrer, Menschen, die vor Krieg und Terror wegliefen. Und der türkische Diplomat.

Wegen unerlaubter Einreise landete er für 20 Tage in einem griechischen Gefängnis und wurde vor Gericht gestellt. Doch der Richter verurteilte ihn gerade mal zu einer Geldstrafe, 80 Euro, und ließ ihn wieder frei. Es war sein grauer Diplomatenpass, der ihn rettete. Da ist er sich sicher.

Hasan, ehemaliger Staatsbeamter

„Die Freiwilligen der Hizmet fühlen sich weltweit nicht mehr sicher, noch nicht einmal in Deutschland“

Der Diplomat flog nach Berlin, anfangs kam er bei Gülen-Anhängern unter. Inzwischen lebt er in einem Asylbewerberheim außerhalb Berlins. Sein Zimmer teilt er sich mit einem ehemaligen PKK-Kämpfer. „Wir haben einen höflichen Umgang miteinander, mehr nicht“, sagt der Diplomat. Er ist noch vorsichtiger geworden, erst recht seit dem Vorfall mit dem Übersetzer bei seiner Anhörung im Asylverfahren. Der habe sich seinen Namen und seine Anschrift notiert, sagt der Diplomat. Nur einen Tag später nahmen Polizisten eines seiner Familienmitglieder in der Türkei fest. Vor knapp einem Monat teilte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge mit, sich von 15 freiberuflichen Dolmetschern getrennt zu haben. Sie hätten ihre Neutralitätspflicht verletzt.

Fluchtgrund: Hingabe

Das Jüngste seiner Kinder war noch im Bauch seiner Frau, als Hasan, wie er sich nennen möchte, fliehen musste. In den Räumen der taz zeigt der kräftige Mann mit dem Karohemd und den roten Wangen ohne Umschweife seinen ehemaligen Dienstpass und seinen vollen Namen. Der soll nicht in der Zeitung stehen. Aber seine Geschichte, die will er erzählen.

Bis zum Putschversuch war Hasan höchster Dienstleiter einer großstädtischen Verwaltung. Sein Chef: ein AKP-Bürgermeister. Er hat vier Kinder, seine Frau fünf, sie war Pflegerin gewesen, bis sie zeitgleich mit Hasan suspendiert wurde – unmittelbar nach dem Putschversuch. Seine Frau lebt allein mit den Kindern in der Türkei. Sie hat eine neue Anstellung gefunden.

Der knapp 80-jährige Fethullah Gülen ist der geistige Anführer einer in über 140 Ländern operierenden Gruppierung mit Schulen, Universitäten und einflussreichen Netzwerken. Er lebt seit 1999 im Exil in den USA. Hasan ist inmitten der Gülen-Bewegung aufgewachsen. Er nennt die Bewegung Hizmet, das lässt sich mit Dienst oder Hingabe übersetzen.

Für die Anhänger der Hizmet ist Gülens Organisation eine Art Robin-Hood-Bewegung: Sie gibt den Armen, nimmt von den Reichen. Kritische Beobachter weltweit glauben hingegen, dass Gülen und seine Leute der Inbegriff einer Sekte sind, die undurchsichtig agiert – auch in Deutschland.

Der AKP und den vorherigen Regierungsparteien war Gülen ein treuer Begleiter, bis zu dem Putschversuch im Sommer 2016. Seitdem werden die Anhänger der Gülen-Bewegung als Mitglieder einer Terrororganisation, FETÖ, verfolgt und inhaftiert. Sie gilt nach Ansicht der Regierung als federführend für den Putschversuch.

Für Gottes Gnade

Schulen und Lernzirkel der Gülen-Bewegung waren die Kaderschmieden für den späteren Staatsdienst. Das wusste auch Hasans Familie. Er habe die Vorteile der Hizmet schon als Kind genossen, erzählt er. Kostenlos durfte er in einem „Lichthaus“ wohnen, wie die Studenten- und Schüler-WGs der Bewegung genannt werden. Dort müssen die Jüngsten als Gegenleistung für ihr Bett an religiösen Gesprächen teilnehmen. Kritiker der Hizmet, wie der inhaftierte Investigativjournalist Ahmet Şık, halten die Lichthäuser für kollektive Orte der Gehirnwäsche.

Hasan sagt: „Ohne die Hizmet hätte ich niemals die Möglichkeit gehabt, zu studieren. Wir hatten eine wundervolle Gemeinschaft. Ältere Studenten haben uns durch das Studium begleitet. Ich habe freiwillig Aufgaben übernommen. Kaufleute und Nachbarn, die der Hizmet nahestanden, finanzierten uns und spendeten uns Lebensmittel. Einfach so, für Gottes Gnade.“ Während er erzählt, sitzt er angespannt auf der Stuhlkante und unterstreicht jeden seiner Sätze mit ausgestreckten Händen.

Lehrerin Özgür

„Ich bin meinem Gott so dankbar, dass ich nicht Handschellen wie meine Freundinnen trage und in engen Gefängniszellen vergessen werde“

Hasan ist schon im Mai 2016 geflohen. Ein befreundeter Polizist hatte ihm im Vertrauen erzählt, dass in seiner Abteilung in den kommenden Tagen Polizeikräfte eine Großeinsatz planen. Hasan bucht den nächstbesten Flug ins Ausland, er führt ihn nach Georgien.

Dort trifft Hasan einen befreundeten Anwalt wieder, gemeinsam helfen sie anderen Gülen-Anhängern, aus der Türkei zu fliehen. Als sich herumspricht, dass ein türkischer Geschäftsmann festgenommen und von Georgien an die Türkei ausgeliefert wurde, fällt Hasan eine Entscheidung: Er muss nach Deutschland. „Die Freiwilligen der Hizmet fühlen sich weltweit nicht mehr sicher, noch nicht einmal in Deutschland“, sagt Hasan, „aber andere Länder liefern sogar Anhänger der Bewegung aus.“

Schnell, innerhalb von nur 25 Tagen, wurde sein Asylbescheid entschieden. Er erhält Geld vom Jobcenter und lernt Deutsch.

Was vermisst er am meisten? Seine Kinder. Ob sie sich außerhalb der Türkei treffen können? Hasan schüttelt energisch den Kopf. Seine Frau darf nicht mehr ausreisen.

Eine provokative Frage sei erlaubt: Ob er denn nicht wütend sei auf die Gülen-Bewegung, letztendlich habe sie einen Anteil daran, dass er von seiner Familie getrennt ist? Hasan überlegt. Lange. „Wir haben als Bewegung aus den Ereignissen keine Lehre gezogen“, sagt er. Wenn die Bewegung sich nicht kritischer betrachte, könne sie sich auch nicht verbessern. Aus seinem Job kenne er das als „Kaizen-Prinzip“, eine Form der Prozessoptimierung. Aber das müsse die Hizmet erst noch lernen. Die Bewegung war bislang sehr zentralistisch geführt worden. Die vielen Anhänger überall auf der Welt könnten diese schlimme Zeit gemeinsam überstehen. Am Ende bedankt er sich überschwänglich für das Gespräch.

Aus Urlaubsziel wird Exil

„Sevk-i ilahi“ nennt die Lehrerin ihren Aufenthalt in Deutschland, eine göttlich befohlene Wanderung. Sie hat sie nach Deutschland geführt. „Nehmen Sie irgendeinen Namen“, sagt ihr Mann am Anfang des Interviews, ihre Vornamen nennen sie nicht. Also gut: Özgür. Ruft das Ehepaar Özgür jemanden an, unterdrücken sie ihre Nummer. Auch sie haben Angst.

Ein Treffen kommt erst nach 20 Uhr zustande, tagsüber arbeiten beide. Wo? Das Paar lächelt höflich und schweigt. Die Lehrerin trägt an dem kalten Herbstabend helle Farben, ihr Kopftuch ist bunt geblümt, so als wolle sie den Sommer noch nicht gehen lassen. Lange Zeit sei sie glühende Anhängerin der AKP und Erdoğans gewesen, erzählt sie und macht dann eine lange Pause. Vor allem weil sie ein Kopftuch trage. Ihr hochgewachsener Mann, ebenfalls um die 40 Jahre alt, redet weniger. Er sei Anhänger der rechtsextremen MHP, sagt er, der AKP habe er nie seine Stimme gegeben. Ja, auch sie beide seien Hizmet tief verbunden.

Vieles von dem, was die beiden im Gespräch in einem Café in Kreuzberg erzählen werden, nehmen sie später zurück. Noch leben sie bei Verwandten. Sie wollen weder sich noch ihre Gastgeber gefährden.

Sie hatten ein schönes Leben in der Türkei gehabt. Haus in der Großstadt, ein Auto, gute Schulen für die Kinder, alles erreicht. Die Kinder hatten sich eine Reise nach Deutschland gewünscht, gedrängelt, schließlich stimmten die Eltern zu. Kurz vor dem Putschversuch flog die Familie nach Berlin. Die Erdbeermarmelade, die die Lehrerin noch vor der Abreise einkochte, steht bis heute auf der Küchentheke. „Ich kann es selbst kaum glauben. Aber wirklich, wir wussten nichts, gar nichts“, sagt sie.

Geschockt hätten sie in der Putschnacht die Vorkommnisse von Berlin aus am Fernseher verfolgt und in den folgenden Tagen in den Nachrichten den martialischen Reden der führenden Politiker gelauscht. Ihre Nächte waren kurz und schlaflos.

Die Freunde tragen Handschellen

Immer wieder stellten sie einander Fragen: Sollen sie zurückfliegen? Abwarten? Sie kommen bei Bekannten und Verwandten unter, wochenlang. Dann tauchen ihre Namen auf Suspendierungslisten auf. Er überlegte, trotzdem zurückzufliegen, er fühlte sich nicht als Erdoğans Feind. Sie hielt ihn ab.

Im Herbst 2016 beantragten sie Asyl. „Wir kamen in das Land als Touristen und blieben als Asylbewerber“, erzählt er mit einem bitteren Ton in der Stimme.

Für die Kinder war Deutschland Anfangs ein Abenteuer. Die neue Stadt, die neuen Freunde. Inzwischen weinen sie viel. „Unser jüngeres Kind hat sich in den ersten Tagen in der Willkommensklasse geschämt, es wollte kein Flüchtlingskind sein“, die Stimme der Lehrerin zittert, sie fängt an zu weinen. „Meine Schüler, die Eltern der Schüler beschimpfen uns als Staatsverräter, als Terroristen. Menschen, die noch vor einem Jahr unsere Hände küssten, glauben nicht an unsere Unschuld.“

Ihre Eindrücke aus den ersten Tagen hat sie mit dem Handy fotografiert. Das Asylbewerberheim, die Menschenschlangen, die Wartesäle und Wartenummern, die von den Beamten am Handgelenk festgebunden werden, all das musste sie festhalten. Sie nimmt die Hand ihres Mannes, sie wollen zu ihren Kindern, die warten. Zum Abschied sagt sie: „Ich bin meinem Gott so dankbar, dass ich nicht Handschellen wie meine Freundinnen trage und in engen Gefängniszellen vergessen werde.“

Das türkische Justizministerium teilt unterdessen mit, innerhalb von fünf Jahren 174 neue Gefängnisse errichten zu wollen. Mehr als 100.000 Menschen sollen darin Platz haben.

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