Debatte Selektive Wahrnehmung: Vom Glück der Blase

Unsere Autorin fühlt sich in keiner Filterblase zu Hause. Sie erklärt, warum die Mengenlehre ohnehin ein besseres Leben verspricht.

Ein Stück Heide mit Gras, dahinter Sonne

„Liegt der Mangel an geeigneten Filterblasen vielleicht an mir?“ Foto: dpa

Seit der Wahl von Trump, spätestens aber seit der Bundestagswahl sprechen ganz viele Leute von der „Filterblase“ – beziehungsweise sie schreiben davon. Denn wenn ich es recht verstehe, stammt der Begriff ursprünglich aus dem Onlinebereich: Die personalisierte, sich an vorigen Präferenzen orientierende Auswahl von Nachrichten tendiere dazu, jedem Internetnutzer nur noch das zu zeigen, was er oder sie eh schon kenne und schätze.

Auf soziale Netzwerke wie Facebook übertragen bedeutet das dann ungefähr: Wenn man konsequent alle Leute ent-abonniert, deren Einträge man nervig findet, kriegt man nur noch die zu lesen, mit denen man eh übereinstimmt. Und längst ist der Begriff Filterblase auch übergesprungen auf das soziale und übrige Leben offline, wo wir angeblich ebenfalls nur denen begegnen, die denken, wählen und leben wie wir.

Sorry, aber das ist Blödsinn. Ja, es gibt eine Tendenz zur Selbstabschottung, auch unter einheimischen, weißen Grün-Linken; aber nicht mal in Prenzlauer Berg begegnet dieser einheimische weiße Grün-Linke nur seinesgleichen. Außerdem können selbst die vernünftigsten Menschen viele kluge Dinge, zum Beispiel pro Grundeinkommen und contra Rüstungsexporte, sagen – und dann bemerkst du in ihren Worten plötzlich Antisemitismus.

Tolle Feministinnen haben jüngst Vorzüge von Hugh Hefner gefunden, und sogar in diesem Medium, ja, hier in der taz, habe ich schon sexistisches oder krudes antiveganes Zeugs gelesen, sodass ich mir bewusst ins Gedächtnis rufen musste: Dieselbe Verspieltheit und – ich meine das positiv – Disziplinlosigkeit, die noch diesen Sexismus und Speziesismus zum Druck freigab, erlaubt auch mir regelmäßig, meine feministischen und antispeziesistischen Gedanken zu Papier zu bringen. Denn eine Redaktion, die sich um Originalität und Tiefe bemüht, die ist – gemischt.

So wie fast alles. Man denke einmal an die klassische Mengenlehre mit den bunten Symbolen: Es gibt so viele Farben und Formen. Und in fast jeder natürlich gewachsenen sozialen Menge herrschen heute enorm viele Unterschiede. Ergo: Meinungsverschiedenheiten. Konflikte. Positiv: Lernen. Man nennt das auch: Moderne. Ich jedenfalls kenne keine Menschen-Mengen, in der mehrere Elemente drin sind, die alle denken und sind wie ich.

Für mich gibt es keine passende Blase

Oder liegt der Mangel an geeigneten Filterblasen vielleicht an mir? Natürlich ist nicht ausgeschlossen, dass ich zufällig in einer ganz extremen Spezialschnittmenge existiere. Wenn ich als vegane Muslimin bei unserer freiwilligen Feuerwehr sitze und ein Kamerad gut gelaunt und ohne jedwede böse oder gar rassistische Absicht einen Witz über Muslime macht, von dem ich weiß, dass ich ihn dennoch keinem der erwähnten Grün-Linken in Prenzlauer Berg nacherzählen könnte, ohne konsternierte Blicke zu ernten, und wenn ich dann versuche, gegen die Windrichtung zu atmen, wenn all diese Würste herumgereicht werden, mit denen sich ein Trupp Feuerwehrleute nach jedem Einsatz stärkt, und wenn ich mich in das Formular für den Motorsägenlehrgang eintrage und feststelle, dass das heutzutage selbst auf dem Dorf gar kein gegendertes Ding mehr ist (trotz der obligatorischen Bildstrecke mit tief übern Hydranten gebückten Busenwundern in einem gewissen Feuerwehrmagazin) – also in dem Moment komme ich mir derart aus der Welt und sämtlichen Mengenlehrenmengen gefallen vor … Da gibt es weit und breit keine für mich passende Blase, die komfortabel meine Meinungen und Identifikationsmerkmale widerspiegelt.

Nicht einmal zu Hause habe ich so eine Blase. Entweder ploppt der Facebook-Messenger auf und jemand empfiehlt mir, ich solle „zurück“ nach Anatolien gehen; oder ich schalte alle Medien aus und genieße die friedliche Abendstimmung – dann geht die Katzenklappe auf und jemand Vierfüßiges schleppt eine sterbende Fledermaus hinein. Und Schluss mit Frieden.

Die Blase soll auch Schuld sein an der AfD

Beim Motorsägenlehrgang auf dem Feuerwehrfest fühle ich mich wie aus der Welt gefallen

Aber ich will ja nicht vorrangig über mein Unbeheimatetsein in der Blasosphäre klagen, ich ziele durchaus auf Allgemeineres. Mir geht das mit der „Filterblase“ nämlich auch deswegen auf die Nerven, weil der Begriff in Diskussionen oft fallen gelassen wird wie ein selbsterklärendes Argument, fast wie ein Vorwurf eigentlich – und zwar wie ein in jüngster Zeit recht beliebter Vorwurf.

So lese ich oft von einer „Filterblase“ mit demselben Unterton, in dem bisweilen behauptet wird, letzten Endes hätten diejenigen, die an so etwas wie Multikulturalismus glaubten, dem Gedankengut von Trump oder Gauland Vorschub geleistet. Also angeblich träumen wir Linken (falls der Begriff so noch passt, momentan geht das mit den Richtungen ja wieder sehr durcheinander) so filterblasig vor uns hin, dass wir nicht bemerken, dass der Zug der Realität an uns und den vielbeschworenen „Schlechtergestellten“ vorbeiziehe; und weil sich diese Schlechtergestellten dann von uns linken Naivlingen alleingelassen fühlen, wählen sie aus Verzweiflung und Trotz AfD.

Geißelt euch nicht

Es mag gut sein, dass eine Menge rechten Wahlverhaltens aus Verzweiflung, Trotz und „Abgehängtfühlen“ herrührt. Aber man führe das bitte nicht stets als Einwand gegen gute Texte, mutige Visionen und Ideale ins Feld! Die Hüllen unserer linken, inklusiven, um Frieden bemühten Ideen­welten sind fragil genug. Wer wirklich nur mit Menschen zusammentrifft , die genauso (weiß, fleischesserisch, privilegiert oder Ähnliches) sind wie er oder sie selbst, der macht vermutlich tatsächlich etwas falsch. Dann muss man mehr Mischung in sein Leben holen, Differenzen aushalten.

Aber für die meisten Menschen – das behaupte ich jetzt mal – , die diese Zeitung hier lesen, ist das Eintauchen in eine Blase, die mit einem selbst harmoniert, eine seltene Freude, ein Ort des Durchschnaufens, des Kräftesammelns und der neuen Inspirationen. Wenn ihr das Glück habt, gerade mal in so einer Blase zu sein: Holt tief Luft und genießt sie!

Und geißelt euch nicht schon wieder. Das tun die anderen nämlich schon eifrig genug.

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Hilal Sezgin studierte Philosophie in Frankfurt am Main und arbeitete mehrere Jahre im Feuilleton der Frankfurter Rundschau. Seit 2007 lebt sie als freie Schriftstellerin und Journalistin in der Lüneburger Heide. Zuletzt von ihr in Buchform: „Nichtstun ist keine Lösung. Politische Verantwortung in Zeiten des Umbruchs.“ DuMont Buchverlag 2017.

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