100 Jahre Oktoberrevolution: Bei Lenin wird jetzt gejodelt

In Sankt Petersburg begann der Siegeszug der Bolschewiki. Im neuen Russland spielt die Revolution keine große Rolle mehr.

Fluss in Stadt

St. Petersburg, wo die Revolution 1917 begann Foto: reuters

ST. PETERSBURG taz | Auf der Haseninsel ist es eng. Touristen schieben sich an den Mauern der Peter-und-Paul-Festung in Richtung der Kathe­drale mit dem 123 Meter hohen vergoldeten Spitzturm und wieder zurück. Die Anlage ist neben dem Newski-Prospekt das touristische Zentrum St. Petersburgs. Die Petersburger, die sich an den Sandstränden der Newa die letzten warmen Sonnenstrahlen aufs Gesicht scheinen lassen wollen, mag das Gedrängel nerven.

Sie sehen wahrscheinlich längst nicht mehr, welcher Schund an den Souvenirständen auf der Festungsinsel verkauft wird. Und vielleicht haben sie sich daran gewöhnt, dass es tatsächlich Männer gibt, die mit T-Shirts durch die Sehenswürdigkeiten laufen, auf denen Russlands Präsident Wladimir Putin mit ­Pilotenbrille so gar nicht cool wirkt, weil sich sein Antlitz, über einem dicken Bauch gespannt, doch arg verzieht.

Ein paar Meter weiter, unweit der gewaltigen Troizki-Brücke über die Newa, warten die Angestellten des Museums für politische Geschichte oft minutenlang, bis sie wieder ein Ticket verkaufen können. Die Ausstellung, die zum 100. Revolutionsjubiläum aufgebaut wurde, ist alles andere als überlaufen. Zu ­Sowjetzeiten war mehr los in der Jugendstilvilla, die das Museum beherbergt. Da hieß die Stadt noch Leningrad, und das Haus war eine der größten Kultstätten auf den Pilgerwegen der Gläubigen der Sowjetreligion.

Hier hatte Wladimir Iljitsch Lenin sein Arbeitszimmer, als sich die Bolschewiken im Revolutionsjahr 1917 aufmachten, die Macht an sich zu reißen. Wer mit einer Reisegruppe durch das sowjetische Leningrad unterwegs war, dem wurde vor allem der Balkon des Hauses gezeigt. Von dort aus sprach Lenin zu den Massen, nachdem er im ­April 1917 aus dem Exil in die revolutionäre Hauptstadt Russlands zurückgekehrt war.

Umstrittener Film um Zar-Mätresse

Heute macht die revolutionäre Villa wieder von sich reden. Das liegt an der Frau, der sie gehörte, bevor die Bolschewiken das Haus zur ­Revolutionszentrale umfunktionierten: Matilda Kschesin­skaja. Ein Historienschinken, der das Leben der Primaballerina des Mariinski-Theaters nachzeichnet, soll Ende des Monats in den russischen Kinos anlaufen.

Die orthodoxe Kirche will das unbedingt verhindern. Denn die ­Tänzerin war lange die Mätresse des jungen Nikolaus, des letzten russischen ­Zaren. Die wilden Liebesszenen in dem Film passen nicht zu dem Bild, das die Kirche vom letzten Herrscher der ­Dynastie der Romanows zeichnet. Sie hat ihn gar heiliggesprochen und so ihrem Wunsch nach Wiederherstellung des russischen Reiches nach vorrevolu­tionärem Muster Ausdruck verliehen.

In Staatspräsident Wladimir Putin glaubte die Kirche lange einen Verbündeten für die Erfüllung dieser Wünsche zu haben. Er hat der Kirche in der Tat viel an Gebäuden und Ländereien zurückgegeben, was ihr die roten Revolutionäre einst abgenommen hatten. Bei der Verfolgung kirchenkritischer Künstler und Aktivisten traten die Truppen des Innenministeriums wie willfährige Vollstrecker der Urteile von Patriarch Kyrill I. auf. Doch dem Wunsch, den Film verbieten zu lassen, kamen staatliche Behörden bislang nicht nach. Putins imperiale Politik, der vom Präsidenten so gern zur Schau gestellte Kreml-Prunk, all das mag an vorrevolutionäre Zeiten erinnern. Doch Putin ist kein Zar.

Demos gegen die Rückgabe der Kathedrale

Das gibt all denen in St. Petersburg Hoffnung, die gerade erleben, dass die Rückgabe der Isaak-Kathedrale an die Kirche nicht vollzogen wird, obwohl sie schon im Januar beschlossen wurde. Einmal in der Woche versammelt sich eine Handvoll Aktivisten und protestiert dagegen, dass aus dem staatlichen Museum, das die Isaak-Kathe­drale heute ist, wieder ein Gotteshaus und nichts als ein Gotteshaus wird. Auch wenn die Pläne für ein Referendum über die Zukunft des monumentalsten Sakralbaus in der Stadt abgeschmettert wurden, so stellen die Aktivisten doch fest, dass ihr Engagement nicht folgenlos bleibt. So ganz soll der Rote Oktober eben doch nicht rückgängig gemacht werden.

Auch das riesige Lenin-Denkmal vor dem Finnischen Bahnhof wird so schnell niemand einreißen. Der Platz vor dem Bahnhof wird für die Feiertage des neuen Russland genutzt. Zum Tag der Russischen Fahne am 22. August spielt eine Blaskapelle aus Tirol schmissige Marschmusik zu Füßen Lenins. Und als der Kapellmeister dann auch noch anfängt zu jodeln, ist die Begeisterung der 100 versammelten Fahnenaktivisten aus dem Stadtteil groß. Was Lenin davon gehalten haben könnte, hat sich wohl keiner der Versammelten gefragt.

St. Petersburg hat nie aufgegeben

Natürlich gibt es auch die ganz große Reichsschau. Wenn des Großen Vaterländischen Kriegs gedacht wird, des Zweiten Weltkriegs, scheint kaum einer der 5 Millionen Einwohner der zweitgrößten Stadt Russlands zu fehlen. Eine Million Menschen verhungerten während der fast 900 Tage dauernden Belagerung der Stadt durch die Wehrmacht.

Als Heldenstadt wird St. Petersburg bis heute gefeiert, weil die Stadt sich nicht aufgegeben hat. Das Gedenken an den siegreichen Krieg gegen den Faschismus ist das ideologische Fundament für Wladimir Putins imperiales Denken. Ein riesiges Museum, das an die Zeit der Belagerung erinnert, soll hier demnächst errichtet werden. Mit dem Entwurf für einen tempel­artigen Monumentalbau von sowjetischen Ausmaßen hat Architekt Nikita Jawein gerade den städtischen Wettbewerb gewonnen.

Wie die Geschichte der siegreichen Armee im Kampf gegen die Deutschen erzählt wird, wird ganz oben im Staat entschieden. Wer fragt, ob es nicht besser gewesen wäre, die Stadt der Wehrmacht zu übergeben, um eine humanitäre Katastrophe zu verhindern, bekommt Ärger. So ist es dem TV-Sender Doschd gegangen, der nur noch im Internet senden darf, seit er genau das bei einer Straßenumfrage von den Menschen wissen wollte.

Putin, der neue Revolutionär?

Für die Geschichte der Revolution gibt es dagegen kaum Vorgaben. Im Museum für politische Geschichte enthalten sich die Ausstellungsmacher dennoch einer Wertung. Mit der Revolution sei ein neuer Staat entstanden, der viel zur Veränderung in der Welt beigetragen habe. Dem wird gewiss keiner widersprechen können. Und doch wird eines klar: Für die Identität des neuen Russland spielt die Revolution nur eine untergeordnete Rolle.

Wer die Ausstellung verlässt, kommt an einem Bildschirm vorbei, auf dem der noch junge Wladimir Putin spricht. Es ist eine Aufzeichnung der Ansprache, die er gehalten hat, nachdem ihm Boris Jelzin am 31. Dezember 1999 die Amtsgeschäfte übergeben hat. Gegenüber laufen auf Monitoren Filmschnipsel, die daran erinnern, wie Jelzin 1991, auf einem Panzer stehend, das Volk zum Widerstand gegen die kommunistischen Hardliner aufruft. Putin – ein Kind der Revolution, einer anderen Revolution.

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