Bündnis der Visegrád-Staaten: Das andere Europa

Wirtschaftsboom, Kritik an Brüssel und Abwehr von Migration: viel mehr eint Tschechien, Ungarn, Polen und die Slowakei nicht.

Andrzej Duda, Milos Zeman, Janos Ader und Andrej Kiska stehen nebeneinander

Visegrád, ein Bollwerk gegen den Rest der Welt Foto: ap

WIEN taz | Wie sehr die Atmosphäre in manchen EU-Staaten durch den fremdenfeindlichen Diskurs vergiftet ist, konnte man Anfang Oktober in der kleinen ungarischen Gemeinde Öcsény beobachten: Die Einwohner organisierten einen Aufstand, als eine lokale NGO einigen Kindern anerkannter Flüchtlinge einen Erholungsurlaub in einem Gästehaus finanzieren wollte. Der Betreiber fand seinen Wagen mit durchstochenen Reifen und eingeschlagenen Scheiben.

Bürgermeister János Fülöp trat nach Morddrohungen aus Angst zurück. Auf einer Einwohnerversammlung kam es zu Schreiduellen. Wortmeldungen, wie „diese Einwanderer sind Tiere, das sind keine Menschen, sie sind Terroristen, sie werden alles zerstören und unsere Kinder vergewaltigen“, wurden protokolliert. Premier Viktor Orbán zeigte volles Verständnis für diese Ausschreitungen gegen Minderjährige, die ein paar Tage Zerstreuung in der Natur suchten: „Ich kann daran nichts Falsches finden. Die Menschen wollen keine Einwanderer.“

Ungarn bildet gemeinsam mit Tschechien, der Slowakei und Polen die Visegrád-Gruppe, benannt nach der ungarischen Grenzstadt am Donauknie. In der mittelalterlichen Stadt, wo einst 1335 die Könige von Böhmen, Ungarn und Polen zusammengetroffen waren, schlossen deren Nachfolger 1991 ein Freihandelsabkommen. Gemeinsame Verteidigungsinteressen, vor allem gegenüber Russland, einten die Gruppe auch nach dem Nato-Beitritt 1999 (die Slowakei folgte 2004). Nach der gemeinsamen Aufnahme in die EU blieb die Gruppe als informelles Binnenbündnis V4 bestehen. Die vier Nettoempfänger von EU-Geldern eint das gespannte Verhältnis zu Brüssel und die geradezu paranoide Abwehr von Zuwanderung, vor allem in der Gestalt von Flüchtlingen. Gemeinsam stemmen sie sich gegen die EU-Quote zur Aufteilung von Flüchtlingen, wenn sich auch etwa die Slowakei einsichtiger zeigt als Ungarn.

In Brüssel gilt der Terminus Visegrád-Gruppe als Synonym für halsstarrige Rechtsaußenpolitik und EU-Bashing als innenpolitische Wunderwaffe. Kein Wunder, dass alle Andeutungen, die Gruppe könne weitere Mitglieder bekommen, als gefährliche Drohung verstanden werden. In ihrem letzten TV-Duell vor den Nationalratswahlen vom 15. Oktober waren sich Sebastian Kurz (ÖVP) und Heinz-Christian Strache (FPÖ) in fast allen Punkten einig. Ein kindischer Wettstreit entfachte sich einzig über der Frage, wer nähere Beziehungen zu Viktor Orbán pflege und ihn öfter getroffen habe. Kurz und Strache werden wahrscheinlich die nächste Regierungskoalition in Österreich verhandeln. Und für beide gilt eine Annäherung an die V4 als erstrebenswert.

Die Wirtschaft boomt, die Abschottung auch

In seinem Essay „Europadämmerung“ beschreibt der bulgarische Politologe Ivan Krastev die Flüchtlingskrise von 2015 als weit gefährlicher für die europäische Einheit als den Brexit oder das Nord-Süd-Gefälle samt Griechenland-Krise. Die mit der Massenmigration aufgebrochene Ost-West-Spaltung bedrohe den Fortbestand der Union. Krastev sieht hinter der Solidaritätsverweigerung der Osteuropäer die feindselige Haltung der von der Wende und der Politik Brüssels enttäuschten „vergessenen Verlierer“.

Ökonomisch ist diese Haltung nicht zu begründen. In allen vier Staaten boomt die Wirtschaft. Trotzdem, so Krastev, herrsche Angst vor der dramatischen Schrumpfung der eigenen Bevölkerung. Die Geburtenraten sind niedrig, die illiberale Politik vertreibt vor allem die Jungen und Gebildeten.

Auch was die Beziehungen zu Russland betrifft, sind die vier nicht auf einer Linie

Wie stark auch die Gemeinsamkeiten der V4 sein mögen, die Dynamik im Inneren unterscheidet sich doch deutlich. Während Viktor Orbán in vielen Entscheidungen von einer rechtsextremen Opposition in Gestalt der faschistischen Jobbik getrieben wird, ist in Polen rechts von der nationalkonservativen PiS keine ernsthafte Kraft auszumachen. Jarosław Kaczyński und seine Leute werden von katholischem Obskurantismus getrieben, Orbán ist besessen von der ethnischen Reinheit der magyarischen Nation, beide sehen sich als Bollwerk gegen den Islam, wobei das von 16. bis ins frühe 18. Jahrhundert vom Osmanischen Reich besetzte Ungarn sich leicht als Opfer inszenieren kann.

In ihrem Feldzug gegen alles, was als sozialistisch oder liberal gesehen werden kann, handeln Orbán wie Kaczyński auch gegen die volkswirtschaftliche Vernunft. Während der ungarische Premier sich rühmt, mit einem Monatsgehalt von 1.191 Euro der bescheidenste Regierungschef Europas zu sein, häufen seine Familienmitglieder Vermögen an. Sein Schulfreund Lörinc Mészáros, Bürgermeister von Orbáns Heimatgemeinde Fel­csut, der in den vergangenen Jahren dank staatlicher Aufträge zum schwerreichen Multiunternehmer geworden ist, wird von vielen für einen Strohmann gehalten. Sein Vermögen verdoppelt sich angeblich jedes Jahr.

Überall Korruption

Besessen vom Ziel, die Oligarchen aus der sozialistischen Zeit durch eine eigene Klasse von politisch genehmen Millio­nären zu ersetzen, hat Orbán die Schleusen für Korruption weit geöffnet. „In Ungarn ist alles erlaubt“, schreibt Gábor Horváth, Chefredakteur der Zeitung Nepszava, „entscheidend ist, ob du gute Kontakte zu Orbán hast – oder nicht“.

So homogen, wie es von außen manchmal erscheint, ist die Visegrád-Gruppe also nicht. Die Slowakei, nach dem Wahlsieg von Andrej Babiš in Tschechien das einzige sozialdemokratisch regierte V4-Land, hält sich beim Brüssel-Bashing auffallend zurück, und Premier Robert Fico hat auch – anders als Viktor Orbán – die Niederlage in der Frage der Flüchtlingsquoten hingenommen.

Auch was die Beziehungen zu Russland betrifft, sind die vier nicht auf einer Linie. Während die Polen das Trauma der russischen Besetzung gern kultivieren, macht Orbán Geschäfte mit Putin und begibt sich mit einem Kreml-Kredit für das milliardenschwere Atomkraftwerk Paks II für Jahrzehnte in die ökonomische Abhängigkeit von Moskau.

Trotz öffentlich bekundeter Sympathien wird sich Österreichs künftiges Regierungsduo hüten, die politische Neutralität aufs Spiel zu setzen. Schließlich will man bei der Ratspräsidentschaft im zweiten Halbjahr 2018 als Mittler und nicht als Spalter auftreten. Auch der Politologe Anton Pelinka glaubt nicht an einen formalen Beitritt Österreichs – doch informell könnte das Land „sich auf europäischer Ebene eher wie Ungarn und Polen verhalten und weniger wie Luxemburg oder Deutschland“.

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