Cannes-Siegerfilm „The Square“: Der Affe in unserer Mitte

Ruben Östlunds Spielfilm „The Square“ ist weit mehr als eine Kunstbetriebssatire. Er nimmt sich Zeit für eine genau beobachtende Gesellschaftskritik.

Mann mit Krücken steht auf einer gedeckten Tafel mit festlich gekleideten Gästen daran

Kunst? Tierisch! Terry Notary als übergriffiger Performance-Künstler Oleg in „The Square“ Foto: Alamode

Das Fremdschämen und die „Cringe Comedy“ haben eines gemeinsam: Sie waren schon lange da, bevor sie mit ihren schmissigen Namen die Runde machten.

„Fremdschämen“ wurde erst 2009 in den Rechtschreibduden aufgenommen, aber das Schamempfinden ob des peinlichen Verhaltens etwa eines mehrheitlich gewählten Politikers, der sich seiner Peinlichkeit gar nicht bewusst ist – das erinnern hierzulande manche als ihre goldene Jugend unter einem Kanzler namens Birne. Und dass man sich über soziale Normen verletzende Narzissten im fiktionalen Rahmen einer TV-Serie köstlich amüsieren kann, hat nicht erst Larry David im Jahr 2000 mit der Cringe Comedy „Curb Your Enthusiasm“ erfunden.

Wie tief die Neigung sitzt, sich gegen Political Correctness abzusetzen, hat David nur quasi „nackt“ ins Zentrum gestellt. Lange bevor der Aufstieg der Rechtsextremen in Europa und die Präsidentschaft Trumps die sozialen Normen unserer auf Toleranz und zivile Umgangsformen verpflichteten Gesellschaften einem unvermuteten Härtetest zu unterziehen begannen.

Heute aber sind Fremdschämen und Cringe Comedy keine Nischenphänomene in der Kleinkunstecke mehr, sondern wichtige Handwerkzeuge der Wirklichkeitsvermessung. Ruben Östlunds Film „The Square“, im Mai beim Festival in Cannes mit der Goldenen Palme ausgezeichnet, führt das auf meisterhaft subtile Weise vor Augen.

„The Square“. Regie: Ruben Östlund. Mit Claes Bang, Elizabeth Moss u. a. Schweden/Deutschland/Frankreich/Dänemark 2017, 145 Minuten.

Anders als der tölpelnde Larry David kommt Christian (Claes Bang), der für Öffentlichkeitsarbeit zuständige Museumsdirektor in „The Square“, als äußerlich perfekte Verkörperung des modernen zivilisierten Mannes daher: Gut angezogen, gut frisiert, gut schlank, erfüllt er alle Kriterien, um vor den vielen Kameras dieser Welt zu bestehen. Mit rotem Brillenrahmen setzt er Akzente gegen die Langeweile, die man einem gefällig-geschmeidigen Typen wie ihm unterstellen mag.

Anlass fürs Fremdschämen

Eine der ersten Szenen des Films macht deutlich, dass es nicht unbedingt sein Intellekt ist, der ihn an seinen komfortablen Posten gebracht hat. Im Interview mit der amerikanischen Journalistin Anne (Eliza­beth Moss) reagiert er konsterniert, als sie ihn nach der Bedeutung eines von ihm verfassten Texts fragt. Christian muss die eigenen Worte – es geht um die Frage, wann Kunst Kunst ist – erst selbst noch mal lesen, bevor ihm eine Antwort dazu einfällt. Das ist vielleicht noch keine Cringe Comedy, aber doch schon Anlass fürs Fremdschämen.

Die Pointe zielt hier nicht auf das Kunstwerk, sondern den Rahmen, den die Gesellschaft um es herum setzt

Weil Christian in einem Museum arbeitet, der Diskurs über moderne Kunst also zu seinem Beruf gehört und sich der Titel des Films „The Square“ auf eine konkrete Ausstellung und ein konkretes Kunstwerk bezieht, erhielt Östlunds Film schnell das Etikett „Kunstweltsatire“.

Als solche fanden den Film manche gar nicht lustig, denn jede Parodie auf den modernen Kunstbetrieb trägt schnell den Geruch des Antiintellektuellen. Schließlich scheint nichts einfacher, als ein Gag über den Putzmann des Museums, der mit seinem Staubsauger ein Kunstwerk beschädigt, das aus Dreckhaufen besteht.

Keinen Skandal machen

Doch in Östlunds Film zielt die Pointe nicht auf das Kunstwerk, sondern den Rahmen, den das Museum und mithin die Gesellschaft um es herum setzt. Mit der „Keine Fotos!“-Regel genauso wie mit Christians verhuschten Anstrengungen, aus der Beschädigung keinen Skandal zu machen, der womöglich Geld kosten und seinen Etat belasten könnte.

In „The Square“ nur die Kunstweltsatire sehen zu wollen, kommt deshalb einer willentlichen Einengung des Blickwinkels gleich, die Östlund im Film zugleich selbst thematisiert. Besteht doch der schwer zu benennende, weil flüchtige, prekäre Kontext der modernen Kunst aus den feinen Grenzlinien der gesellschaftlichen Normen, die als verabredet gelten, aber keine Gesetzgebung haben.

Sind wir nicht zu „gekünstelt“? – heißt deshalb immer auch: sind wir nicht zu zivilisiert, zu domestiziert? Weshalb jemand wie Trump den schützenden Rahmen der politischen Korrektheit auch so schlicht durch Grobheit, Ignoranz und Lautstärke aushebeln kann.

Christians Niedergang

In mehr als einer Hinsicht ist „The Square“ ein Film darüber, wie unsere säkulare, westliche Gesellschaft mit lauten, groben Stimmen umgeht. So beginnt Christians Niedergang, der den roten Faden des anekdotisch erzählenden Films bildet, mit einer lauthals um Hilfe schreienden Frau auf der Straße. Ein Mann stellt sich schützend vor sie und bittet Christian um Mithilfe.

Gemeinsam bieten sie dem herbeistürmenden vermeintlichen Angreifer die Stirn. Als der Reißaus nimmt, gratulieren sich die Männer gegenseitig, sichtlich durch Adrenalin und Macho-Stolz beglückt. Danach stellt Christian fest, dass ihm das Handy, der Geldbeutel und die Manschettenknöpfe fehlen …

Die durch Handy-Ortung ermöglichte Hobbyverbrecherjagd verführt ihn dann im weiteren Verlauf zu Handlungen, in denen er sein zivilisiertes Selbst nicht wiedererkennt. Das bedeutet bei Östlund aber nicht, dass es um Mord und Totschlag geht. Sehr wohl aber, dass eine Konfrontation mit einem ungeheuer lautstarken Zwölfjährigen – „Du hast mich einen Dieb genannt!“ – zum existenzbedrohenden Konflikt eskalieren kann.

Toleranz kann sich wie harte Arbeit anfühlen

„The Square“ hat fast etwas von einer Gag-Revue, in der Östlund Vignetten aus der modernen Alltagswelt aneinanderreiht. Ein sabberndes Baby, das Konferenzteilnehmer einfach ertragen müssen, oder der Mann mit Tourettesyndrom, der das Podiumsgespräch mit einer Künstler-Koryphäe durch Einwürfe wie „Alles Müll“ und „Zeig mir deine Titten!“ unterbricht: Tatsächlich kann sich Toleranz wie harte Arbeit anfühlen. Und vielleicht ist sie gar nicht immer die richtige Antwort auf Konflikte?

In einer Szene treibt es Östlund beziehungsweise die Welt, die er zeigt, zu weit: Da muss eine Galadinner-Gesellschaft den Auftritt eines Künstlers über sich ergehen lassen, der einen wilden Menschenaffen imitiert. Zuerst finden es alle spannend und sind höflich erschreckt über das ungezähmte, auch amüsante Gebaren (Terry Notary, seines Zeichens Stuntman im „Planet der Affen“-Franchise verkörpert den Künstler).

Dann aber legt es das „Alphatier“ mit sicherem Gespür auf die Auseinandersetzung mit einem Künstlerkollegen an (von Dominic West gespielt und mit Pyjama unter dem Sakko als Julian-Schnabel-Hommage erkennbar).

Körperlich übergriffig

Mit überlegenem Grinsen und „Ich durchschaue dich“-Haltung versucht Wests Künstler Fassung zu bewahren, doch als der Affe körperlich übergriffig wird, verlässt er mit „Das lass ich mir nicht bieten!“ den Raum. Die übrige Gesellschaft hält sich derweil noch an die Verabredung, dass es sich hier um eine Performance handle – bis der Affe eine Frau zu Boden ringt und zur Vergewaltigung ansetzt. Dann schreitet ein Erster der Frackträger ein, gefolgt von plötzlich ganz vielen.

Für Sekunden nur hält man als Zuschauer diese Reaktion für die richtige, die zivile Antwort auf eine unerträglich gewordene Situation. Dann aber verschmelzen die Männer zur schlagenden Meute, die blind ihre Gelegenheit nutzt, auf jemand einzuprügeln, der bereits am Boden liegt.

Zwischen Männern, die Pyjama unterm Smokingsakko tragen und Künstlern, die als Menschenaffen auftreten – wie viel Normabweichung wird begrüßt und was lässt sich nicht mehr tolerieren? Östlund will in „The Square“ keine fertigen Antworten geben, er flirtet auch nicht mit dem „Der Mensch ist immer noch Jäger und Sammler“-Paradigma.

Ihn interessiert das Verhalten an sich, und das macht die ganzen 145 Minuten seiner feinen Beobachtungen dazu ungeheuer spannend. Denn anders als in den Grobkomödien, die oft die Vorurteile, die sie durch Überzeichnung entlarven wollen, dadurch zementieren, sind Östlunds Methoden mit Fremdschämen und Cringe Comedy schlicht – sehr zivil.

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