Analyse zur Faszination der Unwahrheit: Dialog mit der Lüge

Bettina Stangneth beleuchtet das Lügen und Belogenwerden in ihrem neuen Buch raffiniert und unterhaltsam. Es ist aber kein Lügen-Ratgeber.

Das weiße Bild von Pinocchio, einer Holzpuppe mit sehr langer Nase, auf einer gelben Hauswand

Lügen machen lange Nasen – das wusste auch Pinocchio schon, der hier als G20-Polizist dargestellt wird Foto: dpa

Die Diskussionen über Fake News und „alternative Fakten“ lassen die Lüge so präsent wie nie zuvor erscheinen. Die digitalen Medien befeuern nicht nur ihre Verbreitung, sie vereinfachen das Identifizieren der Quellen. Und meist sind die Lügen genauso schnell vergessen, wie sie für intensiven Wirbel in sozialen Netzwerken sorgten.

Natürlich kennen wir die Lüge nicht erst seit dem Aufkommen von Twitter-Kurzmitteilungen. Die Klage über eine verlogene Welt sei so alt wie die Menschheit selbst, schreibt Bettina Stangneth in ihrem Essay „Lügen lesen“.

Die Philosophin und Historikerin widmet sich darin allerdings nicht ausschließlich den Verschwörungstheorien, der Trump-Ära im Weißen Haus oder absurden Weltansichten. Ohne diese Themen auszusparen, setzt sie ihren Schwerpunkt auf die Lüge als menschliches Phänomen. Und beleuchtet sie aus jeglichen erkenntnistheoretischen und moralphilosophischen Perspektiven.

Bezüge zu dem frühen Theologen wie Augustinus von Hippo, Goethe oder Menschheitsverbrechern wie Hitler oder Eichmann sind darin zu finden. Sie rechtfertigten die Lüge allesamt mit der Verdopplung des Ichs. Mit diesen Umschreibungen wie den „zwei Seelen in der Brust“ räumt Stangneth ebenso auf, wie sie das Lügen als komplexe Fähigkeit hervorhebt. Lügen muss man können. Es ist eine geistige Leistung. Wir müssen sie im Kindesalter üben, um die Orientierung, die Wirklichkeit unseres Gegenübers ändern zu können. Je enger wir die Lüge mit der Wahrheit verweben, desto eher wird sie funktionieren. Auch diesen Aspekt des gelingenden Lügens lässt die Autorin nicht aus.

Das Buch liest sich nicht als ausgefeilter Ratgeber zum Entlarven und Belügen und nur in Teilen als moralisches Plädoyer. Stangneth umkreist auf ihrem Denkweg immer wieder aufs Neue Geschichten aus der Mythologie, Erkenntnisse der großen PhilosophInnen und allgemein bekannte Beispiele aus der Kindheit oder dem Alltag.

Alternative Realität & parallele Wahrheit

Damit schafft sie es, die theo­retischen Absätze mit szenischen Beschreibungen und historischen Anekdoten aufzulockern. Aus philosophischer und historischer Sicht lässt sie keine Perspektive auf die Struktur der Lüge aus. Die abwechslungsreiche und nicht zuletzt aktuelle Betrachtung macht die Kapitel raffiniert unterhaltsam.

Dieser Text stammt aus der taz.am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und rund um die Uhr bei Facebook und Twitter.

Eine intensive Beschäftigung mit der Lüge gehört seit Jahrzehnten zur Arbeit Stangneths. Ihre literarische Aufarbeitung der gelungenen Selbstinszenierung des Nationalsozialisten Adolf Eichmann vor Gericht („Eichmann vor Jerusalem“, 2011), der unbehelligt nach 1945 weiterleben konnte und erst in den 1960er Jahren verurteilt wurde, entsprang bereits Stangneths Idee von der Lüge.

„Lügen lesen“ ist zudem die Fortsetzung von „Böses denken“, das 2016 erschien. Während sich das Vorgängerwerk mit der menschlichen Gedankenwelt auseinandersetzt, beschäftigt die Autorin in „Lügen lesen“ unser bewusstes Handeln im Dialog.

Zum Lügen gehören unweigerlich die Belogenen. Die nicht selten die Augen vor der Unaufrichtigkeit des Gegenübers verschließen, so eine These der Autorin. Das kenne jeder, der schon mal Smalltalk geführt habe oder flüchtig Bekannte auf der Straße getroffen habe. Die klassische Frage nach dem Wohlergehen der GesprächspartnerInnen ist dabei eher eine nette Floskel und weniger waches Interesse. Einen ähnlichen Bezug stellt Stangneth im Hinblick auf das politische Zeitgeschehen her: In „The Post-Truth Era“ schreibt der Autor Ralph Keyes bereits im Jahr 2004 von Begriffen wie „alternative Realität“ oder „parallele Wahrheit“ in Verbindung mit Personen wie Donald Trump. Das rasante Vergessen, ist eines der erkennbaren Phänomene, die die intensive Beschäftigung mit der Lüge hervorbringt.

Bettina Stangneth: „Lügen ­lesen“. ­Rowohlt, Reinbek 2017, 197 Seiten, 19,95 Euro.

„Es ist der Traum der Philosophen“, schreibt die Autorin über eine lügenfreie Welt. Ihr Buch bietet eine Reihe von Denkanstößen von tiefster Verlogenheit bis zur Aufrichtigkeit. In „Lügen lesen“ lassen sich vielfältige Ansätze finden, um selbst in den Dialog mit der Lüge zu treten.

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