Sind Tiere Diven?

Die Industriestadt Turin war Italiens erste Filmmetropole. Das großartige Filmmuseum dort beschäftigt sich zurzeit mit Tieren, die im Film von Anfang an eine Rolle spielten

Tiere auch hinter der Kamera: Szene aus „India – Matri Bhum“ von Roberto Rossellini,1959 Foto: museocinema

Von Renata Stih

Es ist ein herrlichen Sommertag an der US-Atlantikküste, Menschen sind am Strand, Kinder im Boot, da ist eine Haiflosse zu sehen, Panik entsteht, das Boot mit den Kindern kentert und noch ein Boot mit einem Mann, dann sieht man das Ungeheuer verschwommen im Wasser, der Mann klammert sich ans Boot, wird in die Tiefe gezogen, ein Kind schaut dem Grauen zu und wir Zuschauer dem Kind. Und sind schon gefangen von Stephen Spielbergs Horrorferienfilm „Der weiße Hai“ („Jaws“, 1975), der Teil der Ausstellung „Bestiale – Tiere im Film“ ist, derzeit im Museo Nazionale del Cinema in Turin zu sehen.

Die Ausstellung untersucht die Bedeutung der tierischen Darsteller in der Geschichte des Kinos. Schnell wird deutlich: Tiere spielten von Anfang an Hauptrollen, dabei waren und sind sie am Erfolg der Produktion genauso beteiligt wie die berühmtesten Stars. Hunde wie Rin Tin Tin und Lassie, sprechende Pferde oder vermenschlichte Enten im Animationsfilm sind Bestandteil der filmischen Erinnerungskultur, nicht zuletzt weil sie Kinder und das Kind im Erwachsenen gleichermaßen ansprechen.

Quer durch alle Genres sind Tiere zu beobachten. Eine Frage, die sich dabei aufdrängt, ob sie eigentlich schauspielern können, versucht die Ausstellung in zahlreichen Interviews und Dokumentationen auf die Spur zu kommen. Weiter möchte sie wissen, wer sie dressiert? Am Set betreut? Wie die Regie mit ihnen umgeht? Sind tierische Schauspieler womöglich echte Diven?

Und dann sind da die Realien: der künstliche, mechanische Kopf des „Weißen Hais“ (1975), hier zum Greifen nah, während man im Videoclip daneben einige der furchterregendsten Filmszenen miterlebt. Auch die zerfetzte Jacke von Hauptdarsteller Mitch aus Hitchcocks „Die Vögel“ („The Birds“, 1963) ist ausgestellt, daneben ein Foto von Tippi Hedren und Rod Taylor mit Vogelattrappen am Set.

Der im Kalten Krieg entstandene Science-Fiction-Film „Tarantula“ (1955) von Jack Arnold zeigt Clint Eastwood als Piloten eines Napalmbombers, mit dem die Riesenspinne doch noch bezwungen wird; Ronald Reagan posiert mit dem populären Affen Bonzo (1951), während Marilyn Monroe in „Nicht gesellschaftsfähig“ („The Misfits“, 1961) für das Überleben der Wildpferde kämpft. Legendär ist die Titelsequenz von Saul Bass in „On the Wild Side“ (1962), wo die Kamera einer schwarzen Katze nachspürt, Sinnbild für das wilde Leben der Hauptfigur (Jane Fonda). In einer abgeschirmten Sektion befasst man sich sogar mit Tieren in Erotikfilmen.

Das Filmmuseum Turin residiert in der extravaganten Architektur der Mole Antonelliana, benannt nach ihrem Architekten Alessandro Antonelli (1798–1888). Der hatte den Ziegelbau, der mit seinen knapp 170 Meter hohen Kuppel selbst den Kölner Dom überragt, im Auftrag der jüdischen Gemeinde als neue Synagoge in der ersten Hauptstadt des wiedervereinigten Königreichs Italien konzipiert. Doch die Kosten überstiegen die Möglichkeiten der Gemeinde und so übernahm die Stadt Turin das Gebäude. Sein stützenfreier, rund 80 Meter hoher Innenraum ist ein Erlebnis ohnegleichen, geradezu wie gemacht für seine jetzige Verwendung als Filmmuseum. Besonders faszinierend erlebt man dies in einer der 63 roten Liegen, die in dem gigantischen Innenraum wie Sitzreihen im Kino angeordnet sind. Von ihnen aus kann man auf zwei großen schwebenden Videoscreens die Clips der präzise ausgewählten Filmszenen bewundern.

Entlang der Kuppel-Innenwände spult sich eine schmale Rampe hoch, wie eine ausgezogene Filmrolle, auf der man sich spiralenförmig nach oben bewegt, während man die Ausstellungsobjekte im Close-up studiert und gleichzeitig die Totale des Raums erlebt. Man sollte sich Zeit nehmen für den Aufstieg in diesen Parnass des Films, wobei der Facettenreichtum des Ausstellungsmaterials beim Abstieg quasi als Rückblende noch einmal zu erleben ist.

Wie eine ausgezogene Filmrolle spultsich an den Innenwänden eine schmale Rampe hoch, man studiert Ausstellungsobjekte und erlebt die Totale des Raums

Die Vielfalt der multimedialen Installation ist eine kuratorische Glanzleistung. Konzipiert wurde „Bestiale“ von Davide Ferrario and Donata Pesenti Campagnoni, die aus den reichhaltigen Sammlungen des Turiner Filmmuseums und Institutionen wie der Academy of Motion Pictures Arts and Sciences in Los Angeles oder der Cinémathèque française schöpfen konnte. Auch der Palm Dog Award ist mit von der Partie, der Preis, den die Internationalen Filmfestspiele von Cannes seit 2001 jährlich dem besten Hundedarsteller verleihen.

Das Museo Nazionale del Cinema ist bekannt für solche Wechselausstellungen. 2014 hatte es in „Best Actress – Oscars“ die seit 1929 mit dem Oscar ausgezeichneten Schauspielerinnen und ihre Filme vorgestellt. Die Schau entstand in Zusammenarbeit mit der Deutschen Kinemathek und war 2015 auch im Berliner Filmmuseum zu erleben. Überhaupt ist das Museum ein Mekka für Filmsüchtige, denn die wertvollen Sammlungen und historischen Archive mit Mediathek und Bibliothek, mit über 1.000.000 Fotos, Filmen, Filmplakaten, Artefakten, Filmskripten, Abspielgeräten, Kameras, sind in ihrer Fülle und Vielschichtigkeit einzigartig und in der Dauerausstellung von dem Schweizer Bühnenbildner François Confino im Dialog mit dem historischen Bauwerk grandios inszeniert.

Im Mittelpunkt steht die ikonische Figur der „Cabiria“ aus dem gleichnamigen Stummfilm von Giovanni Pastrone (1914), dessen Drehbuch Gabriele d’Annunzio mitverfasste. Der Film, dessen Einfluss auf Fritz Langs „Metropolis“ (1927) überdeutlich ist, entstand in Turin, denn die Industriestadt war Italiens erste Filmmetropole, bevor Mussolini die Cinecittà-Filmstudios in Rom einweihte.

„Bestiale“,bis 8. Januar, Museo Nazionale del Cinema, Turin