Boris Palmer über Flüchtlingspolitik: „Schweigen wäre falsch“

Tübingens OB wirft Merkel unzulässigen Moralismus vor. Und er kritisiert den Hochmut des liberalen Bürgertums und dessen Verachtung für die ängstliche Unterschicht.

Ein grau melierter Mann mit Vollbart sitzt mit einem roten Hemd bekleidet vor zwei Wassergläsern und spricht

Tübingens OB Boris Palmer beim taz-Interview im Saal der Ritter des Altes Rathauses seiner Stadt​ Foto: Boris Schmalenberger

taz: Herr Palmer, Sie haben ein Buch geschrieben, im dem sie Ihre kritische Haltung zur Flüchtlingspolitik der Kanzlerin erklären. Was ist seit 2015 falsch gelaufen?

Boris Palmer: Rückblickend gar nicht so viel. Aber ich finde, dass Angela Merkel die Sache unzulässig moralisch aufgeladen hat. Die Behauptung, es sei ein moralischer Imperativ, die Flüchtlinge aufzunehmen, wurde von ihr selbst in die Welt gesetzt. Sie hat ihn aber vor September 2015 und nach März 2016 selbst nicht befolgt. Und was nach wie vor fehlt, sind legale und sichere Wege für Einwanderung, auch für Asylbewerber.

Ihr Parteifreund Anton Hofreiter hat Merkel in der taz gerade wegen der Klimapolitik vorgeworfen, sie habe die „Heuchelei zur Kunstform erhoben“. Trifft das auch auf die Flüchtlingspolitik zu?

Ich würde den Begriff Heuchelei aus Respekt vor dem Amt nie auf die Kanzlerin anwenden.

Als Oberbürgermeister haben Sie in Ihrer Stadt respektable Flüchtlingsarbeit geleistet. Trotzdem gaben Sie von Anfang an den grünen Bedenkenträger. Warum können Sie sich nicht darüber freuen, dass in diesem Land eine so große Hilfsbereitschaft herrscht, die bis heute anhält?

Kann ich. Es ist nur die Frage, wie man das erhält. Wenn man es übertreibt, riskiert man die weltoffene Gesellschaft, die Deutschland in den letzten 25 Jahren geworden ist. Es ist übertrieben, so zu tun, als wären auch jährlich eine Million Flüchtlinge kein Problem. Zur Übertreibung gehört, dass man alle, die skeptisch sind, als Rassisten ausgrenzt. Im Ziel gibt es gar keine Differenzen. Ich will, dass Deutschland ein flüchtlingsfreundliches Land ist.

44, geboren in Waiblingen, studierte Geschichte und Mathematik in Tübingen und setzte sich schon früh für Umwelt- und Verkehrsfragen ein. Seit 1996 ist er Mitglied der Partei Bündnis 90/Die Grünen. Von 2001 bis 2007 war er Abgeordneter im Landtag von Baden-Württemberg, seitdem ist er Oberbürgermeister von Tübingen.

Aber Sie nennen Ihr Buch „Wir können nicht allen helfen“…

Ist daran etwas falsch?

Entweder ist das eine Binsenweisheit – oder Sie wollen eigentlich etwas anderes damit sagen.

Nein, ich will nichts anderes sagen. Es ist ein Allgemeinplatz, dass wir nicht alle Flüchtlinge in Europa aufnehmen können. Aber es regt trotzdem manche Leute auf. Für die klingt das wie „Das Boot ist voll“. Genau gegen diese Kurzschlüsse wehre ich mich.

Sie finden, man rufe zu schnell Rassist. Kann man deshalb dem „grünen Professor“ aus Tübingen recht geben, der angesichts der vielen Flüchtlinge Angst um seine „blonde Tochter“ hat, wie Sie das in einem Spiegel-Interview getan haben?

Dieser Professor hat nun mal’ne blonde Tochter. Soll ich dem sagen, Du bist ein Rassist, weil du die Haarfarbe deiner Tochter ins Spiel bringst? Oder sage ich besser: „Ich kann deine Sorgen verstehen, lassen Sie uns schauen, was wir tun können“?

Man könnte ihn ja darauf aufmerksam machen, dass es nicht nur um seine blonde Töchter und deutsche Frauen geht, sondern darum, das Leben in einer Stadt für alle sicherer zu machen.

Ich glaube trotzdem, dass wir in solchen Fällen, das Wort Rassismus inflationär verwenden und damit Leute abstoßen, die für unsere Politik eigentlich erreichbar wären.

Sind Ihre Posts auf Facebook, in denen Sie eine Gruppe dunkelhäutiger junger Männer auf dem Regionalbahnhof fotografieren, Ihre Art, den einfachen Bürgern eine Stimme zu geben? Oder wollen Sie damit vor allem die Leidensfähigkeit Ihres eigenen Milieus austesten?

Es stimmt, mir folgen dort viele Leser aus dem grünen Milieu, die schnell die Moralkeule rausholen. Diesen Hochmut des liberalen Bürgertums – man kann auch sagen: die Verachtung für die Unterschicht, wo diese Ängste oft artikuliert werden – kritisiere ich.

Aber ist es Ihrem Amt angemessen, mit solchen Posts Leute zu stigmatisieren? Sie sind ja auch der Bürgermeister der schwarzen Menschen.

Da gibt es zwei Reaktionen von Menschen mit dunkler Hautfarbe. Die einen sagen: Du machst uns, die wir schon lange hier leben, das Leben schwer, denn wir werden damit unter einen Generalverdacht gestellt. Die anderen sagen: Wir haben allergrößtes Interesse daran, dass diejenigen, die uns durch Fehlverhalten und auch Gewalt in Verruf bringen, verfolgt und identifiziert werden. Das ist ein schmaler Grat.

Über die angeblich bedrohlichen Flüchtlingsgruppen sprechen und schreiben Sie, über randalierende Fußballfans, die ebenfalls das Sicherheitsgefühl verletzen, nicht. Ist nicht genau das Rassismus?

Nein, das finde ich nicht. Ich erwarte von Menschen, die Hilfe in unserem Land suchen und bekommen, mehr Rücksichtnahme als von denen, die hier aufgewachsen sind.

Ein moralischer Appell. Aber man kann daraus doch keine rechtlichen Forderungen ableiten. Im Fall eines Gambiers, der im Verdacht steht, vier Frauen in Tübingen vergewaltigt zu haben, haben Sie gefordert, Gesetze zu ändern, damit verdächtige Flüchtlinge anders als Deutsche zu einem DNA-Test gezwungen werden können.

Der mutmaßliche Täter von Tübingen ist ja letztendlich durch einen DNA-Test aufgeflogen. Wir wissen also, wäre er vor zwei Jahren getestet worden, wären spätere Taten zu verhindern gewesen. Da ist es doch legitim zu fragen: Schöpfen wir bereits alle gesetzlichen Möglichkeiten aus und müssen die Gesetze möglicherweise angepasst werden?

Sie fordern, tatverdächtige Flüchtlinge vor dem Gesetz anders zu behandeln als deutsche Staatsbürger …

Es gab zwei spezifische Probleme von Asylbewerbern, die die Ermittlungen erschwert haben. Erstens war der mutmaßliche Täter lange nicht im Raster der Fahnder, weil er sich wahrscheinlich jünger gemacht hat. Zweitens waren viele der Flüchtlinge, die die Polizei zum freiwilligen DNA-Test gebeten hatte, in ihrer Unterkunft nicht anzutreffen. Und da halte ich eine Diskussion für sinnvoll, ob die Schwelle zum Zwang für eine solche Speichelprobe, die ja nicht wehtut, abgesenkt werden kann, wenn man damit den Täterkreis einschränkt. Ich möchte über diese kleine Gesetzesverschärfung diskutieren. Mehr nicht.

Kleine Änderung? Ihre Forderung betrifft immerhin Grundrechte und gleich zwei grüne Kernthemen: den Umgang mit Flüchtlingen und das Grundrecht auf informationelle Selbst­bestimmung.

Tut mir leid: Wenn ein Schwarzafrikaner in Tübingen im Botanischen Garten zweimal Frauen ins Gebüsch zieht, liegt der Verdacht nahe, dass das ein Asylbewerber war. Ich habe jedenfalls damals nichts anderes gedacht. Der Verdacht wird auch durch die Statistik nahegelegt, weil bei Sexualstraftaten Flüchtlinge überrepräsentiert sind. Für mich wäre aufgrund solcher Indizien bei der Suche nach einem Serienvergewaltiger der Zwang zu einem DNA-Test gerechtfertigt. Denn eine schnelle Tataufklärung oder die Entlastung durch negative Tests hilft auch, Ressentiments auszuräumen, die sonst gegen eine ganze Gruppe herrschen.

Dafür werden Sie schon wieder mehr Applaus von der AfD bekommen als von Ihren Parteifreunden.

Mag sein, aber das ist ein schwaches Argument. Wenn ich das mit grünen Frauengruppen in Tübingen diskutiere, dann stimmen die mir oft mit großer Vehemenz zu. Neulich hat eine Frau zu mir gesagt: „Wenn Sie nicht mehr in Tübingen wären, würde ich wegziehen.“

Tübingen ist nicht Neukölln und sie argumentieren gerne mit Zahlen. Alle Statistiken sagen, dass Deutschland immer sicherer wird, Gewaltkriminalität zurückgeht. Warum zählt bei Ihren besorgten Bürgern das Statistikargument plötzlich nicht?

Schwere Straftaten von Asylbewerbern nehmen leider zu. Aber das hat mit der Bedeutung des öffentlichen Raums zu tun. Tatsächlich findet natürlich die Masse der Vergewaltigungen im privaten Umfeld statt und wird nie öffentlich. Deshalb ist der Standardtäter in Deutschland auch ein weißer Mann. Aber die angsteinflößende Wirkung von Gewalt auf die Allgemeinheit entsteht im öffentlichen Raum. Wenn Frauen glauben, sich dort nicht mehr frei bewegen zu können, dann können Sie ihnen diese Angst nicht mit Zahlen nehmen.

Wenn es um Abschiebungen geht, argumentieren Sie in Ihrem Buch aber wieder kühl statistisch. Das Risiko, in Afghanistan durch Gewalt ums Leben zu kommen, sei zahlenmäßig gesehen in etwa genauso hoch wie in Chicago, schreiben Sie dort. Was denn nun?

Ich habe mit diesem Vergleich darauf hingewiesen, dass Afghanistan nicht so gefährlich ist, dass man alle Abschiebungen von vornherein für unmöglich erklären muss. Ich finde, dass man Abschiebungen nach Afghanistan bei unbescholtenen Asylbewerbern sein lassen sollte. Aber bei zu Haft verurteilten Straftätern ist das aus meiner Sicht eine angemessene Konsequenz – schließlich ist kein Flüchtling dazu gezwungen, hier schwerwiegende Straftaten zu begehen.

In manchen Punkten korrigieren Sie sich in Ihrem Buch. Gibt es Wortmeldungen, die Ihnen heute leidtun?

Ja, eindeutig, manches bei Face­book. Da gibt es Sätze, die ich zu schnell geschrieben habe, die zu viel Potenzial für Missverständnisse geboten haben. Ich würde heute auch das Wort „blond“ aus dem Spiegel-Interview streichen.

Haben Sie schon mal Sorge gehabt, mit Ihrer Kritik an der Willkommenskultur so zu enden wie Oskar Lafontaine mit seiner Kritik an der deutschen Einheit?

Nein, anders als Lafontaine will ich nicht Kanzler werden. Ich wollte als Oberbürgermeister auf Probleme vor Ort aufmerksam machen, die in der bundespolitischen Debatte nicht genug gesehen wurden. Das ist mir gelungen. Schweigen wäre angesichts der großen Aufgabe einfach falsch.

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