Debatte Gewalt: Das Zwei-Seiten-Syndrom

Ob in Sachen G20-Gewalt oder bezogen auf den Islam: Entweder ist man dafür oder dagegen. Grautöne sind nicht gefragt.

Betende Muslime in einem Sufi-Schrein in New York

Orthodox heißt nicht automatisch böse: Betende Sufis während des Ramadan Foto: Reuters

Es ist schon viel zum G20, den Protesten und Polizeieinsätzen geschrieben worden – keine Sorge, ich fange nicht noch einmal von vorne an. Ich möchte an diesem Beispiel bloß ein Merkmal öffentlicher Debatten illustrieren, das mich schon oft geärgert hat.

Man könnte es das Zwei-Lager-Syndrom nennen, weil sich dabei eine Diskussion so hochschaukelt und strategisch so zugespitzt wird, dass es nur zwei Seiten zu geben scheint; und jeder, der sich öffentlich äußert, wird zwangsläufig einer dieser Seiten zugeschlagen. Entweder man ist für die oder für jene. Wer für „die“ ist, muss gegen „jene“ sein. Wer etwas für „jene“ zu bedenken gibt, spricht gegen „die“. Angeblich.

Jede*r, der oder die auf Facebook ist, wird es miterlebt haben: Wer darauf hinwies, dass die Polizei Wasserwerfer auf friedliche Demonstrant*innen richtete, wurde gefragt, ob er oder sie denn das Stürmen einer Ikea-Filiale gutheiße. Sobald man Fotos von Polizisten postete, die sich auf hartem Boden ausruhen wollten, wurde man verdächtigt, Polizeigewalt zu verharmlosen.

Wer darauf beharrte, dass man mit dem Begriff „Gewalt“ nicht das Schlagen von Menschen und das Zerdeppern von Fensterscheiben gleichsetzen dürfe, dem wurde unterstellt, er finde das Anzünden von Autos in Ordnung. Wer das Anzünden von Autos kritisierte, dem oder der wurde vorgeworfen zu übersehen, wie viel Gewalt derweil vom globalisierten Kapitalismus für die Bewohner*innen dieser Erde ausgehe.

Nachdenken statt Disclaimern

Entweder, oder. Aber erstens sind Mengen natürlich nicht homogen: Man kann von einem, der Gewalt anwendet, nicht auf alle anderen schließen, die dieselbe Kleidung tragen. (Zuletzt erkennbar daran, dass auch Nazis schwarze Hoodies trugen; und auch Polizisten haben nicht alle dieselbe Einstellung.)

Zweitens ist dieses binäre Muster, in dem es zwei Seiten geben muss, von denen eine recht und und die andere unrecht hat, höchst destruktiv und verleitet zu lauter Fehlschlüssen. Womöglich haben beide unrecht. Womöglich beide ein bisschen recht und ein bisschen unrecht. Und sehr wahrscheinlich gibt es noch eine dritte und vierte Perspektive, die ebenfalls bedenkenswert ist und dennoch nicht das Übernehmen oder Anhören weiterer Perspektiven erübrigt.

Der öffentliche Raum wird entsetzlich verengt, der Austausch praktisch unmöglich

Mich lässt dieses Zwei-Seiten-Syndrom zunehmend verzweifeln, weil es den öffentlichen Raum so entsetzlich verengt und Austausch und Erkenntnis praktisch unmöglich werden lasst; alles, was man äußert, wirkt wie ein strategischer „Move“ oder muss wie ein solcher überprüft werden: Wie könnte das, was ich sage oder schreibe, fehlinterpretiert und -zugeordnet werden?

Im Grunde müsste jedem Satz und jedem Artikel ein Disclaimer folgen, in dem stünde: „Die Autorin will dies nicht so verstanden wissen, als ob sie …“ Aber wer andauernd über Disclaimer nachdenken muss, kann nicht mehr frei denken.

Die Wahl zwischen lauter Fettnäpfchen

Vielleicht bin ich deswegen besonders empfindlich gegen das Zwei-Lager-Syndrom, weil ich als Muslimin mit jedem Satz über den Islam oft ohnehin nur die Wahl zwischen lauter Fettnäpfchen habe. Ob in Sachen G20-Gewalt oder IslamZudem durfte ich schon des Längeren mitverfolgen, wie die Bewohner*innen des Nahen Ostens mit oberflächlichen Labeln in Freund oder Feind sortiert wurden.

Als der Iran mit Chomeini noch als Hauptfeind galt, wurden Schiiten zumeist mit „grausam“ oder „Hardliner“ assoziiert. Die Sunniten des Iraks galten als „bessere“ Muslime und Freunde des Westens.

Unter Saddam Hussein wurden später die irakischen Sunniten der Hauptfeind; sie unterdrückten Schiiten. Während dieses Irakkriegs bekam das Wort „Schiit“ im Deutschen einen positiven Klang, jetzt waren Sunniten die Hardliner, potentiell Salafisten (= absolut böse).

Das ist alles völlig aberwitzig. Ich hoffe sehr, dass irgendwann einmal ein*e Politikwissenschaftler*in eine Doktorarbeit schreibt über den Wechsel der Freund-Feind-Zuordnungen im Nahen Osten, bei denen jeweils ein Begriff, eine viel zu pauschal definierte Menge als Codewort dient für Gut oder Böse.

Der Feind meines Feindes

Ich selbst bin Sunnitin sowie Schülerin in einem Sufi-Orden. Sufis sind die Mystiker im Islam, hier in Deutschland gelten sie zumeist als besonders „gut“, sozusagen als noch besser als die verfolgten Schiiten. Angeblich sind alle Sufis unorthodox und damit automatisch besonders west-kompatibel.

Aber erstens sind viele Sufis sehr orthodox, oder genauer: orthopraktisch; zweitens heißt orthodox nicht unbedingt „böse“. Und drittens heißt mystisch nicht automatisch subaltern oder friedlich. Im Laufe der Jahrhunderte gab immer wieder mystische Linien, die von Herrschern Privilegien erhielten; manche Sufi-Orden haben sich gar als Söldner verdungen.

Wenn diejenigen deutschen Kom­men­ta­­­tor*innen, die gern das Loblied auf den Sufismus singen, davon erführen, würde vielleicht eine Welt für sie zusammenbrechen … Oder, wahrscheinlicher, eben nicht. Sie würden an ihrem grundsätzlichen Weltbild Freund vs. Feind festhalten und einfach ihr nächstes Lieblingskind ausfindig machen, zum Beispiel einen reformerischen, schiitenfreundlichen Zoroastrismus.

Auch wenn es zumeist wohl nicht bewusst stattfindet – zumindest nicht auf der Ebene der breiten Öffentlichkeit und der Journalist*innen –, sollen solche Zwangsetikettierung und all die kruden Vereinfachungen, die da walten, wohl helfen, klare außenpolitische Positionierungen vorzunehmen, die uns zupasskommen. Nur so kann die alte und irreführende Regel beibehalten werden, dass der Feind unseres Feindes unser Freund sei.

Wir brauchen eine andere Außenpolitik

Anzuerkennen, wie verwirrend die Welt und wie vielfältig natürlich auch Menschen in anderen Teilen dieser Welt sind, würde unsere bisherigen außenpolitischen Schemata völlig überfordern. Aber wir brauchen ohnehin eine andere Außenpolitik, nicht wahr?

Statt einmal diesem, später jenem, dann wieder diesem und am besten auch gleichzeitig jenem Panzer und Waffen zu verkaufen … Also: Überfordern wir sie ruhig! Und geben wir zu: Jeder außenpolitische und auch jeder innere, gesellschaftliche Konflikt hat so viel mehr als nur zwei Seiten.

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Hilal Sezgin studierte Philosophie in Frankfurt am Main und arbeitete mehrere Jahre im Feuilleton der Frankfurter Rundschau. Seit 2007 lebt sie als freie Schriftstellerin und Journalistin in der Lüneburger Heide. Zuletzt von ihr in Buchform: „Nichtstun ist keine Lösung. Politische Verantwortung in Zeiten des Umbruchs.“ DuMont Buchverlag 2017.

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