Frankreichs neue Partei En Marche: Nett sein und lächeln

Emmanuel Macrons Partei wird bei der Parlamentswahl am Sonntag wahrscheinlich die absolute Mehrheit gewinnen. Was treibt sie an?

Ein Mann geht neben einem Plakat von Macron durch eine Tür ins Licht

Wohin steuert Macrons Partei En Marche? Foto: reuters

FONTAINEBLEAU/COMBS-LA-­VILLE/VILLENEUVE-SAINT-GEORGES taz | Am Platz vor der Türe dreht sich ein Karussell, im Spiegelsaal im ersten Stock hängen Fotos von Filmstars an der Wand, Brigitte Bardot, Alain Delon. Von der Decke baumelt ein Kronleuchter, in einem Regal an der Wand liegen Weinflaschen. Das Grand Café an der Place Napoléon in Fontainebleau bei Paris sieht aus wie aus einer Postkarte herausgeschnitten.

An den runden Tischen, weiß gedeckt, haben um die 30 Menschen Platz genommen, die meisten über 50. Am Dienstagabend dieser Woche hat Estelle Rousseau zu einem Bürgertreffen eingeladen, so nennt sie es, natürlich geht es vor allem um die Wahl. Rousseau will nicht zu optimistisch klingen, aber sie wird am Sonntag wohl ihren Wahlkreis gewinnen und ins Parlament einziehen, 35,1 Prozent hat sie im ersten Wahlgang vor einer Woche geholt, 7 Prozentpunkte mehr als ihr konservativer Kontrahent.

Rousseau schüttelt Hände, man duzt sich. „Soll ich mich noch mal vorstellen, für die Neuen?“, fragt sie. „Nein, nein“, sagt eine ältere Dame, „wir wissen, wer Sie sind.“

Estelle Rousseau, 42 Jahre alt, in Fontainebleau geboren, hat Jugendliche betreut und Tanzgruppen geleitet, aktuell ist sie Projektmanagerin in einer Nachbarstadt. Mit Politik hatte sie nicht so viel am Hut, bis sie sich vor einem Jahr bei En ­Marche engagierte, der Bewegung von Emmanuel Macron, der im Mai zum französischen Präsidenten gewählt wurde. Inzwischen ist sie eine der Veteraninnen, so schnell kann das gehen.

Traditionelle Parteien spielen nur noch eine Nebenrolle

Die Regeln der alten Politik, sie sollen jetzt nicht mehr gelten bei dieser neuen Art, Politik zu machen. „Links, rechts, Mitte, das hat keine Bedeutung mehr“, sagt sie.

Zu kandidieren kam ihr nicht in den Sinn. Bis Macron im Januar die Frauen aufrief, sich einzubringen. „Da dachte ich mir: Ich bin schon dabei. Ich muss nicht aufgeweckt werden. Was soll denn das?“ Erst später dämmerte ihr: Es geht auch darum, Verantwortung zu übernehmen. Als Kandidatin. Und – wenn es die Wähler wollen – auch als Abgeordnete in der Nationalversammlung.

En Marche-Kandidatin Rousseau

„Links, rechts, Mitte, das hat keine Bedeutung mehr“

Es sieht alles danach aus, dass die REM, wie sich die neue Partei nennt, eine absolute Mehrheit im Parlament bekommt. Wahlforscher rechnen sogar damit, dass sie sogar drei Viertel der Abgeordneten stellen wird, das wäre ein Rekord.

Die traditionellen Parteien, die Republikaner und die So­zia­listen, werden im Palais Bourbon, dem Parlamentssitz in Paris, künftig nur noch eine Nebenrolle spielen. Entscheiden werden die vielen neuen Abgeordneten, die durch Macron motiviert wurden. Die meisten haben wie Estelle Rousseau wenig bis gar keine Erfahrung in der Politik.

Eines fällt auf beim Treffen im Grand Café: Sie sprechen kaum über Inhalte. Für Rousseau ist REM „eine Plattform, die Möglichkeiten bietet“. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Es geht um Werte. Immer wieder fällt das Wort „bienveillance“, Wohlwollen, sie verkaufen es als Konzept. Vom politischen Gegner spricht man mit Respekt. Nett sein, lächeln. Ein Stapel Handouts geht durch die Reihen, Tipps für den Haustürwahlkampf. Die Schritte: Sich vorstellen; einschätzen, wo das Gegenüber politisch steht; „sein Projekt pitchen“, was auch immer das genau bedeuten mag; Kontakt halten. In Dreiergruppen trainieren sie den Ablauf. Ding, dong, bonjour, haben Sie kurz Zeit?

Der direkte Wahlkampf lohnt sich bis zuletzt. Denn die Wahlbeteiligung war sehr niedrig im ersten Wahlgang. Und die Parlamentswahl ist in der Öffentlichkeit weit weniger ein Thema als die des Präsidenten.

Im Nirgendwo des Pariser Speckgürtels steht ein Gemeindehaus in einer kleinen Stadt namens Combs-la-Ville. Alles ziemlich ländlich hier. Etwa 50 Zuhörer warten am Mittwoch auf die Kandidatin Michèle Peyron, sie verspätet sich. Der Saal ist gefliest, in einer Ecke steht ein kleiner Tresen, Kühlschrank, Herdplatte. Einer der Aktivisten bläst blaue, rote und weiße Luftballons auf, ein anderer bereitet eine Powerpointpräsentation vor und eine sagt: „Die Linken bauen Scheiße, dann wählen wir wieder die Rechten, dann bauen die Scheiße, und fünf Jahre später ist es wieder umgekehrt. Das kann doch nicht ewig so weitergehen.“ Sie ist vielleicht Mitte 20.

In Dörfern um Stimmen kämpfen

Peyron begrüßt jeden mit Handschlag, und dann erzählt vorn schnell einer die Erfolgsgeschichte des Komitees, so nennen sie bei En Marche die Ortsgruppen. Wie eine kleine Gruppe von vier Leuten immer größer wurde, 102 Mitglieder haben sie heute. Michèle Peyron war von Anfang an dabei. Und jetzt will sie im Parlament die Erneuerung, so sagt sie es.

Michèle Peyron, 55 Jahre alt, ist Buchhalterin im Rathaus der Nachbargemeinde, sie hat zwei erwachsene Kinder und drei Stiefkinder, die noch zu Hause leben. „Geprägt wurde ich durch meine Rolle als Mutter“, sagt sie, „aber vor allem auch durch die Arbeit.“ Deswegen sagt sie auch ja zum geplanten neuen, flexibleren Arbeitsrecht, weil sie mehr Selbstverantwortung will. Die Reform des Arbeitsgesetzes ist eines von Macrons Projekten, die er mit einer stabilen Parlamentsmehrheit im Rücken schnell durchsetzen kann. Wenn es Protest dagegen gibt, dann auf der Straße, die Gewerkschaften können in Frankreich viele mobilisieren.

En-Marche-Kandidatin Peyron

„Ich habe gesehen, was der Front National mit der Zivilgesellschaft macht“

Peyron will bis zuletzt in den Dörfern um Stimmen kämpfen, dort, wo viel der rechtsextreme Front National gewählt wird. Vor Jahren hat sie für eine Weile im Rathaus von Toulon gearbeitet, unter einem FN-Bürgermeister. „Ich habe gesehen, was das mit der Zivilgesellschaft macht“, sagt sie. „Wir müssen diese Entwicklungen um jeden Preis verhindern.“

Beim Treffen im Gemeindehaus geht es nicht mehr um den Wahlkampf, sondern um die Zeit danach. Was soll mit den Komitees passieren? Sie diskutieren in Kleingruppen, um dann ihre Vorschläge im Plenum vorzustellen. Diese sind ziemlich vage.

Am Bahnhof von Villeneuve-Saint-Georges steht ein Mann und röstet Maiskolben über einem Einkaufswagengrill. Alle paar Minuten ziehen Flugzeuge in Fenstersichtweite über die Häuser gen Orly. Villeneuve-Saint-Georges gilt als „quartier sensible“, als schwieriges Viertel südlich von Paris; wer es sich leisten kann, haut ab. Das liegt vor allem am Lärm. Einflugschneise, Hochbahn, Autobahnzubringer.

Keine Lösungen

Kandidat Laurent Saint-Martin, 31 Jahre alt, Controller, ist ein Neuling in der Politik, er sagt, er sei „eher links“. Für 100 Gäste haben sie am Donnerstagabend Stühle im Gemeindesaal aufgestellt, es wird schließlich die neue Verkehrsministerin erwartet, Élisabeth Borne. Um die 50 Personen wird der freundliche Security-Mann am Ende durchgewunken haben. Die Politik interessiert hier nicht sehr viele, zwei Drittel sind nicht zur Wahl gegangen, und gezählt werden nur die eingeschriebenen Wähler.

Zunächst lässt Saint-Martin seine stellvertretende Kandidatin die Bedenken beiseite wischen, die an REM herangetragen werden. Die neuen Abgeordneten, politisch unerfahren und deswegen fügsam wie Schafe? „Es sind freie Menschen, normale Leute“, sagt sie. Und die Gefahr einer Diktatur im Gewande der Demokratie? Erstens gebe es noch weitere Staatsorgane, und zweitens seien sie das progressive Lager. Die Vielfalt. Die Zukunft.

Von Rot-Rot-Grün träumt die linke SPD-Politikerin Angela Marquardt. Hugo Müller-Vogg ist ein konservativer Publizist, den das gruselt. Dennoch verbindet beide eine fast 20-jährige Freundschaft. In der taz.am wochenende vom 17./18. Juni reden sie über die Freude am Streit und die gemeinsame Liebe zur „Lindenstraße“. Außerdem: Genau eine Bernsteinfischerin gibt es in Deutschland. Ein Besuch auf Rügen. Und: Nestlé verändert die Rezeptur von Maggi. Ein Rundgang durch die Welt der Geschmacksverstärker und Würzsoßen. Am Kiosk, eKiosk oder im praktischen Wochenendabo.

Saint-Martin ist sich sicher, dass es wegen der Bandbreite an Meinungen keine einheitliche Linie unter den Abgeordneten geben wird. Nur den Willen, gemeinsam Lösungen zu finden. Für ihn ist es extrem wichtig, dass sie im Parlament eine gute Performance ablegen. Denn wenn die neue Partei scheitert, sagt er, droht 2022 die extreme Rechte das Ruder zu übernehmen.

Über solche Dinge machen sich die Leute in Publikum keine Gedanken, sie haben viele Probleme aus ihrem Alltag mitgebracht, diese tragen sie nun vor. Die Stadt werde verpestet und vergiftet, ersticke, seit 40 Jahren schon. Der Lärm, immer schlimmer. Nur noch 35 Prozent der Haushalte zahlten Steuern. Wann tut sich endlich etwas?

Bürgerkomitees statt Lösungen

Die Ministerin verspricht vor allem kleine Lösungen: mehr Fahrräder und Elektroautos, weniger laute Flugzeuge.

Laurent Saint-Martin, der wahrscheinlich bald im französischen Parlament sitzt, hat gar keine Lösungen parat. Er lädt alle Anwesenden ein, sich in den Bürgerkomitees einzubringen, die künftig dem Abgeordneten zuarbeiten sollen.

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