Gleichberechtigung der Geschlechter: Das Rennen ihres Lebens

Kathrine Switzer läuft am Montag den Boston-Marathon. 1967, vor genau 50 Jahren, hat sie das schon einmal getan. Damals war es ein Skandal.

Ein Mann rennt hinter Switzer und versucht, ihr die Nummer zu entreißen, zeitgenössisches Foto

Der Versuch, Kathrine Switzer die 261 abzureißen, macht ihren Einbruch in eine Männerwelt berühmt Foto: Paul Connell/The Boston Glove via Getty

Im Frühjahr 1967 findet in Boston zum 71. Mal der jährliche Marathon statt. Wie immer am Patriots’ Day, im Gedenken an den Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg, ausgebrochen am 19. April 1775. Im folgenden Jahr 1776 proklamierten die abtrünnigen britischen Kolonien ihre Unabhängigkeitserklärung, deren Präambel einsetzt: „We hold these truths to be self-evident, that all men are created equal, that they are endowed by their Creator with certain unalienable Rights, that among these are Life, Liberty and the pursuit of Happiness.“

Alle Menschen seien also gleich geschaffen, mit unveräußerlichen Rechten wie Leben, Freiheit und Streben nach Glück. Wobei sich fragen lässt, ob es wirklich um alle Menschen ging. Mankind bedeutet Menschheit, men hingegen wahlweise Menschen oder bloß: Männer. Aber worin sollte im 18. Jahrhundert schon der Unterschied bestehen zwischen Männern und Menschen? Etwa darin, dass es­­­­­ Frauen gab?

Aber doch nicht als Teil des öffentlichen Lebens. Doch nicht gleich geschaffen. Doch nicht frei. Doch nicht gemacht, nach Glück zu streben.

An diesem Mittwoch im April 1967 wird in Boston eine junge Frau viele Männer erstaunen und einen von ihnen in rasende Wut treiben. Sie wird Geschichte schreiben, weil sie für sich in Anspruch nimmt, gleich und frei und nach Glück strebend zu sein. Indem sie etwas tut, was ihr verboten ist: Sie läuft.

„Get the hell out of my race“

Es ist das Jahr des Summer of Love, aber jetzt, Mitte April, ist es noch ungewöhnlich nasskalt in Boston, zu Beginn des Rennens haben die Läufer mit Schneeböen zu kämpfen. Auch K. V. Switzer, registriert mit der Teilnehmernummer 261. Wie viele andere hat Nummer 261 wegen der Witterung Leggings und Sweatshirt nach dem Warmmachen ausnahmsweise nicht abgelegt. Und so dauert es ein paar Kilometer, bis es Journalisten in einem Pressebus auffällt: Nummer 261 ist eine Frau. Amüsiert bis empört informieren sie die Rennleitung. Die ist nur empört.

Einer der Organisatoren, Jock Semple, rast der Frau hinterher, später wird sie sagen, es habe sich angefühlt, als sei ihr ein hechelnder Jagdhund auf den Fersen. „Get the hell out of my race!“, so erinnert sich Switzer, schreit Semple, und: „Give me those numbers!“ Dann will er ihr die Startnummer vom Sweatshirt reißen. Als könne er mit der Nummer auch die Frau eliminieren, die sie trägt. Doch das beherzte Tackling von Switzers Freund, einem Footballspieler, wirft Semple aus der Bahn. Switzer läuft weiter. Der Pressebus an ihrer Seite. Die Reporter sind aufgeregt: Was will diese Frau beweisen? Ist sie eine Suffragette? Auf einem Kreuzzug?

Nichts davon hat Kathrine Virginia Switzer im Sinn. Die 20 Jahre alte Studentin der Universität von Syracuse will einfach einen Marathon laufen, und weil sie sich mit den Initialen ihrer Vornamen angemeldet hat, ist nicht aufgefallen, dass da jemand etwas Verbotenes tut. So erzählt sie es bis heute.

Wie aus einer Voodoo-Welt

50 Jahre später ist es eine merkwürdige Vorstellung, dass Frauen an diesem Wettbewerb nicht teilnehmen durften, dass eine Zuwiderhandlung als Schändung des Marathons wahrgenommen wurde. Doch es kursierten Ideen wie aus einer Voodoo-Welt: Langstrecken zu laufen würde Frauen vermännlichen, ihnen würde Brusthaar sprießen und der Uterus könne herausrutschen, und sie bekämen auch keinen Mann mehr ab. In einer Welt, in der Männer die Entscheidungen trafen, galt es auch in der Leichtathletik als ausgemacht, dass Frauen körperlich allenfalls Sprintstrecken bewältigen konnten – wenn sie denn weiblich bleiben wollten.

„Frauen hätten an diesem Tag gezeigt, „dass sie sich das Recht verdient haben, öffentlich körperlich erschöpft zu sein““

1928 ließ man erstmals Frauen bei Olympischen Spielen die 800 Meter laufen. Doch als beim Rennen in Amsterdam eine oder zwei Läuferinnen nach der Ziellinie erschöpft auf den Boden sanken, wurde die Disziplin gleich wieder gestrichen. Erst 1960 wurde sie wieder olympisch. Da hatte die Schülerin Kathrine Switzer gerade mit dem Ausdauerlaufen angefangen. Zunächst um fit fürs Hockeyteam an der High School zu werden, doch bald wurde das Laufen selbst ihre Leidenschaft. Switzer sagt: „Ich habe früh entdeckt, dass Laufen mir das Gefühl gibt, stark, frei und unerschrocken zu sein.“

An der Universität setzte sie durch, in der Laufgruppe der Männer mittrainieren zu dürfen. 1967 war ihr Trainer bereit, sie zum Boston-Marathon mitzunehmen, nachdem sie einen Testlauf über die 42,195 Kilometer lange Strecke erfolgreich absolviert hatte.

Switzer war nicht die erste Frau, die an den Start ging

Dass Switzers Lauf berühmt wurde, lag jedoch allein an Jock Semples Attacke – vielmehr daran, dass sie fotografiert wurde. Ironie des Wutanfalls: Nur weil er unbedingt ungeschehen gemacht werden sollte, wurde dieser Einbruch in eine Männerwelt überhaupt bekannt. Hätte Semple es dabei bewenden lassen, Switzer zu ermahnen und sie nach dem Rennen zu disqualifizieren (was auch geschah), wäre das Abenteuer ihre Privatsache geblieben.

Zumal sie nicht einmal die erste Frau war, die in Boston an den Start ging. Ein Jahr zuvor hatte die fünf Jahre ältere Bobbi Gibb offiziell beantragt, teilnehmen zu dürfen, war abgelehnt worden und hatte sich dann ohne Startnummer unauffällig ins Feld eingereiht. 1967 wiederholte sie das und lief in 3:20 Stunden eine Stunde schneller als Switzer. Gibb machte es nicht zum Inhalt ihres Lebens, sich für das Frauenlaufen einzusetzen oder auch umgekehrt: die Sache für sich einzusetzen. Sie arbeitete als Anwältin, bildende Künstlerin, Autorin und in der Neurowissenschaft. Und läuft bis heute. Für sich.

Bei einem Mann heroisch, bei einer Frau abstoßend

Kathrine Switzer hingegen machte den Kampf um das Frauenlaufen zu ihrer Mission und zur Grundlage ihrer Karriere als Kommentatorin und Rednerin. 1984 co-kommentierte sie für das US-Fernsehen den ersten olympischen Frauenmarathon bei den Spielen in Los Angeles. Da sie selbst jahrelang an Kampagnen mitgewirkt hatte, um den Frauenmarathon ins olympische Programm zu hieven, war sie beseelt, als eine Landsfrau im Stadion einlief, um die erste Goldmedaille in dieser Disziplin zu gewinnen. Es sollten aber nicht die Bilder von Joan Benoits Triumph sein, die in Erinnerung blieben, sondern wieder die Bilder eines Störfalls.

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Die Schweizer Läuferin Gabriela Andersen-Schiess hatte eine Trinkstation verpasst und ging bei sengender Hitze völlig dehydriert auf die finale Stadionrunde. Sie hätte aufgegeben, sagte sie später, wenn es nicht Olympia gewesen wäre und sie nicht schon 39 Jahre alt. So aber gab es nur dieses eine Rennen für sie. Sie musste es ins Ziel schaffen, egal wie. Während Andersen-Schiess in spastisch anmutenden Zuckungen über die Tartanbahn wankte, schwankte das Publikum zwischen Bewunderung und Entsetzen. Da war es wieder, das Stigma des Unweiblichen: Wo bis zur Fratze entstellte Verausgabung bei einem Mann als heroischer Akt gilt, schrumpft sie bei einer Sportlerin schnell zum würdelosen, abstoßenden Anblick.

Switzer fürchtete, nun würde es wieder heißen, Frauen seien zu schwach für den Marathon.

Es kam anders. Andersen-Schiess erreichte das Ziel und erholte sich schnell. Dehydrierung ist kein Totalschaden, auch nichts, wobei man seine Weiblichkeit einbüßt. Der Sportjournalist Roger Robinson, nebenbei mit Kathrine Switzer verheiratet, schrieb: Frauen hätten an diesem Tag gezeigt, „dass sie sich das Recht verdient haben, öffentlich körperlich erschöpft zu sein“. Switzer fand diese Analyse so erstaunlich wie befreiend und erkannte: „Vielleicht geht es bei Gleichberechtigung auch darum.“

Get the hell out of my way!

Seit 1972 dürfen Frauen offiziell am Boston-Marathon teilnehmen, an diesem Ostermontag wird auch Kathrine Virginia Switzer es noch einmal tun. 50 Jahre nach ihrem Debüt. Frauen haben seitdem viel erreicht im Kampf um Gleichheit und Freiheit und das Recht auf Glück, manches ist unterwegs wieder verloren gegangen. Eine Marathonstrecke ist immer ein Kampf, und viele Kämpfe sind Marathonstrecken.

Aber jede Läuferin, die im Rennen ist, ist im Rennen.

Sagt ihr heute einer: Get the hell out of my race!, dann hat sie eine Antwort: Get the hell out of my way!

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