Petition der Woche: In Kassel geht es um die Wurst

In Nordhessen lieben sie ihre Ahle Wurst. Jetzt scheint sie bedroht: Auf einem Kulturfest soll es sie nicht geben. Dagegen regt sich Widerstand.

Links ein alter Mann mit Krone, rechts eine junge Frau mit Diadem. Sie beißen gemeinsam in eine Bratwurstsemmel, die in der Bildmitte ist

Auch in Thüringen lieben sie die Wurst. Dort gibt es sogar Bratwurstkönig und Wurstkönigin Foto: dpa

Die Ahle Wurst ist Kultur, sie ist Heimat und Identität – für viele Menschen in und um Kassel. Seit Jahrhunderten stellen Menschen in Nordhessen sie her; halten Schweine, machen sie zu Wurst, die vier Wochen reifen muss, dann ist sie hart und haltbar und gut.

Noch heute ist die Ahle Wurst nicht wegzudenken: Aus Fleisch reifer Schweine, gewürzt mit Salz, Pfeffer, Knoblauch oder Kümmel, schmeckt die Rohwurst einzigartig. Sie wurde als bedrohtes Kulturgut der Küche aufgenommen in die „Arche des Geschmacks“, ihre Macher beantragten 2016 bei der EU-Kommission die geschützte geografische Angabe für die „Nordhessische Ahle Wurst“; nicht jeder soll sein 08/15-Würstchen nach ihr benennen dürfen.

Doch jetzt wurde sie verboten: Auf dem „Tag der Erde“, einem Kultur- und Umweltfest in Kassel, soll dieses Jahr kein Fleisch verkauft werden. Die Wolfsangerstraße im gleichnamigen Stadtteil bleibt am 23. April von 11 bis 18 Uhr vegetarisch. So hat es der Veranstalterverein Kulturhaus Kassel entschieden. Sieben Stunden ohne Ahle Wurst!

Am 20. Februar initiierte Hartmut Schaumburg eine Petition, um die Wurst zu retten. „Gerade in Nordhessen, der Heimat der Ahlen Wurst, hat der Verzehr der Bratwurst eine hohe Bedeutung“, heißt es da, sogar den römischen Dichter Ovid bemüht er: „Wehret den Anfängen“, und prophezeit: „Demnächst wird auch noch der Verzehr von Bier verboten.“ Das wäre ja mal was! Die Entscheidung soll zurückgenommen werden; 2.400 Menschen haben bereits unterschrieben.

Platz oder Wurst?

Der Veranstalter sieht das anders. Das Kulturhaus Kassel richtet das Fest seit 27 Jahren aus, rund 20.000 Menschen kamen letztes Jahr, 220 Stände gab es. Dieses Jahr gehe das nicht. Vorstandsmitglied Hubert Grundler erklärt: Jedes Jahr wird in einem anderen Stadtteil Kassels gefeiert. Dieses Jahr ist der Wolfsanger dran, die Straße dort ist eng, Stände müssen weichen. „Natürlich wollten wir dabei keinen Organisationen absagen, die sich um Umwelt oder Nachhaltigkeit bemühen.“ Zuerst musste das Kunsthandwerk dran glauben, dann fiel der Blick aufs Fleisch.

Keine Bratwurststände und keine, die, wie bisher, Ahle Wurst auf Brote legten. „Fleisch ist ja allgemein ein Thema momentan“, sagt Grundler, „da wollten auch wir uns positionieren.“ Er selber ist kein Vegetarier, will also nicht missionieren. „Die Bratwurststände brauchen einfach verhältnismäßig viel Platz, weil sie groß sind und eine bestimmte Infrastruktur brauchen. Wir wollen hier mit Sicherheit kein fleischloses Zeitalter einleiten.“

Er ist links, deutsch, ein Antifa – und zieht in den Krieg nach Syrien. Er hört die Raketen, schießt, will nicht nach Hause. Das Protokoll eines Kämpfers lesen Sie in der taz.am wochenende vom 1./2. April. Außerdem: Vor der Wahl in Frankreich wirkt Emmanuel Macron wie die letzte Hoffnung Europas. Wie links ist er? Und: Mathilde Franziska Anneke und Karl Marx kannten sich. Sie hat so radikal gedacht, geschrieben und gehandelt wie er. Warum erinnert sich niemand an sie? Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.

Dass das Thema so emotionalisiert, damit hatte der Verein nicht gerechnet. Doch essen, das ist eben nicht nur Nahrungsaufnahme. Kultur, Zeitgeist und Lebensumstände spiegeln sich darin, der Kult um die Ahle Wurst zeigt auch die Verbindung zur Heimat. In den letzten Jahren ist sie wieder im Kommen. Die Kasseler Schlacken besingen sie in „Ahle Wurst“ („Hast du Ärger und niemanden, der dich liebt, / dann ist die Ahle Wurst das Beste, was es gibt“); Wurschtekurse führen ein ins Zerlegen von Schweinen und Stopfen von Därmen; Gourmets treffen sich zur Verköstigung. Die Nordhessen lieben ihre Wurst.

Hendrik Haase ist Essensaktivist; auch er hat eine persönliche Beziehung zur Ahlen Wurst, so geht es vielen: „Die lag bei meiner Oma immer auf dem Tisch oder in der Speisekammer.“ Bei einigen werde noch geschlachtet und gewurstet, manche lassen sich die Wurst auch in ihre neue Heimat schicken: „Ohne die kann ich nicht.“ Grund dafür ist, sagt Haase, auch der identitätsstiftende Charakter der Wurst, die nicht in Großbetrieben hergestellt werden kann. Es kommt auf die Würzung an und darauf, dass das Fleisch bei der Verarbeitung noch warm ist. Das könne nur in Hausschlachtung garantiert werden. Die Wurst ist also Rückbesinnung und Selbstvergewisserung in der Tradition – ein Bekenntnis zur Region, eine Absage an industrielles Essen.

Dennoch muss es dieses Jahr auf dem Tag der Erde auch mal ohne Wurst gehen. Einen Tag lang, in einer Straße Kassels, das sollte auch den Wurstbewussten möglich sein. Und ehrlich: Hat es die Ahle Wurst denn nötig, zu glauben, nun sei es aus, nur wegen eines einzigen wurstfreien Tages?

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