Leben in Paris in den 1920ern: Dann wieder Krieg

Zu Unrecht vergessen und zum Glück wiederentdeckt: Elliot Pauls wunderbare Reportagen schaffen ein Panorama der Stadt.

Eine belebte Straße in den Abendstunden

So sieht es heute in der Rue de la Huchette, Paris, aus Foto: imago/Michael Schick

Am 22. August 1927 wurden die Anarchisten Sacco und Vanzetti, „ein redlicher Maurer und ein armer Fischverkäufer“, im Bundesstaat Massachusetts wegen eines Raubüberfalls, den sie nicht begangen hatten, hingerichtet. Der Prozess, der sich sieben Jahre lang hinzog, war einer der ersten, der eine riesige Solidarisierungswelle für die Angeklagten auf der ganzen Welt auslöste.

Damals lebte der US-amerikanische Journalist Elliot Paul in der Pariser Rue de la Huchette, einer kleinen Seitenstraße des Boulevard St. Michel ganz in der Nähe der Seine. Er fühlte sich zutiefst einsam und schämte sich, denn die Leute aus dem Viertel hatten sich in einer kleinen Bar getroffen und warteten auf die Bestätigung des Todesurteils. Ein Austernverkäufer, ein Milchhändler, der „sanfte kleine Jean“, die Bordellbetreiberin Mariette, die „ganz in Schwarz gekleidete“ Magistratsangestellte Hortense Berthelot und eine „versoffene Alte, die glaubte, sie singe wie Yvette Guilbert“. Alle warten gebannt auf Nachrichten, bis der Barbesitzer von einem Telefon­apparat an der Ecke zurückkommt, um die Hinrichtung der beiden zu bestätigen, während eine empörte Menschenmenge auf dem Boulevard de Sébastopol gusseiserne Laternenpfähle herausriss und Schaufenster von Geschäften zertrümmerte.

Das war zu einer Zeit, als die Dritte Republik sechs neue Kriegsschiffe bauen ließ, ständig Friedensabsichten bekundete, einen Kriegsächtungspakt mit den USA abschloss und die spanische Republik den Faschisten überließ. Aber die Leute in der Rue de la Huchette waren nicht so leicht hinters Licht zu führen: „Wenn man so viel vom Frieden redet, dann bekommen wir bestimmt wieder Krieg“, sagte der Barbesitzer, und er hatte recht.

Von diesem Einfluss großer Politik und großer Ereignisse auf das Leben kleiner Leute berichtet auf großartige Weise das zu Unrecht als Roman annoncierte Buch Elliot Pauls „Das letzte Mal in Paris“, denn es sind eher Erzählungen und Reportagen. 1942 erschienen, kam es zwei Jahre später unter dem etwas pittoresken Titel „Die kleine Gasse“ auch auf Deutsch im Exilverlag Bermann-Fischer in Stockholm heraus. Der Maro Verlag hat den zu Unrecht vergessenen Elliot Paul wiederentdeckt und in der leider etwas zu zurückhaltend überarbeiteten Übersetzung von Ludovica Hainisch-Marchet wieder aufgelegt.

Elliot Paul war einer der amerikanischen Schriftsteller und Journalisten, die es wie Hemingway Anfang der 20er Jahre nach Paris zog. Er arbeitete damals für die internationale Ausgabe der Chicago Tribune, gab das Literatur-Journal Transition heraus, war mit James Joyce befreundet und Gertrude Stein eng verbunden. Anfang der 30er Jahre lebte er ein paar Jahre lang zurückgezogen auf Ibiza, bis ihn der Bürgerkrieg in Spanien zwang, wieder nach Paris zurückzukehren, wo er ein völlig verändertes, politisch unerträgliches Klima vorfindet, weil die Rechten sich im Aufwind befinden.

Provinziell, sparsam, großzügig und trinkfest

Man erfährt, dass viele Pariser sich Katzen nur halten, um sie irgendwann zu verspeisen

Als sich ein deutscher Panzer in der Rue de la Huchette verirrt, wird es für Elliot Paul Zeit, sein geliebtes Paris zu verlassen und nach Amerika zurückzukehren. Er arbeitet für Hollywood, schreibt Drehbücher, unter anderem für „Rhapsody in Blue“, und tritt manchmal in der Umgebung von Los Angeles als Pianist auf, um sich über Wasser zu halten. 1958 stirbt er und hinterlässt ein umfangreiches Werk.

Elliot Pauls Beobachtungen des Pariser Lebens auf den Straßen erinnert an Franz Hessels Spaziergänge in Berlin, aber Elliot Paul ist näher an den Leuten, er sieht sich nicht bloß als distanzierter Beobachter, er ist politisch wach und steht sozialem Unrecht nicht gleichgültig gegenüber. Der Zufall führt ihn 1923 zum ersten Mal in die Rue de la Huchette, zu einer Zeit, als „es einem noch vergönnt war, ein wenig in den Tag hineinzuleben“. Er verliebt sich in die Gasse und die dort lebenden Menschen, die er in den folgenden Jahren porträtiert. So lässt er in kurzen Kapiteln ein Panorama entstehen, das von unschätzbaren Wert ist, wenn man wissen will, unter welchen konkreten Bedingungen die Bewohner des Viertels leben mussten, was sie arbeiteten, wie sie wohnten, welche politische Einstellung sie hatten und welche Gewohnheiten sie pflegten.

Elliot Paul gewährt einen Blick hinter die Vorhänge des Privaten. An jenem Tag „hockten Männer, Frauen und Kinder auf dem Bürgersteig und den Schwellen ihrer Haustüren und brummten ärgerlich, wenn sie zur Seite gehen mussten, um ein Taxi vorbeizulassen“. Man erfährt, dass viele Pariser sich Katzen nur halten, um sie irgendwann zu verspeisen, und dass sie sich mit dem abgezogenen Katzenfell warm reiben, weil ihre Wohnungen nicht beheizbar sind.

Elliot Paul: „Das letzte Mal in Paris“. Aus dem Engl. v. L. Hainisch-Marchet. Maro Verlag, Augsburg 2016, 400 S., 20 Euro

Man bekommt einen lebendigen Eindruck, wie ärmlich, provinziell, sparsam, scheu, wie engstirnig, aber auch wie großzügig und manchmal auch trinkfest die Menschen in dieser schmalen Gasse waren, wo das Bureau de Police kein Auto besaß, aber immerhin ein Telefon, wo das große Palaver in den Bars nie verstummte, bevor die Deutschen über die Stadt herfielen. Elliot Paul sind die Menschen dort ans Herz gewachsen, und das merkt man. Er verliebt sich in die junge Schauspielerin Hya­cinthe, die ihm wunderschöne Briefe nach Ibiza schreibt, und obwohl erfolgreich, hört sie nicht auf den Rat ihres Freundes, bleibt in Paris und findet den Tod.

Ein Buch, in dem man sich gern verliert, nicht nur, weil eine bizarre und schon lange untergegangene Welt wieder lebendig wird, sondern auch, weil man erfährt, wie sich die politischen Wirren im Alltag der kleinen Welt der Rue de la Huchette niederschlugen.

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