Aus Le Monde diplomatique: Das brasilianische Desaster

Die korrupte Regierung beschließt den Rückzug des Staates. Sie will die öffentlichen Dienste aushöhlen und alle Sozialprogramme abschaffen.

Drei Menschen haben sich in eine brasilianische Fahne eingehüllt, um sie herum weht Rauch

Protest in Rio de Janeiro gegen die Korruption und Kürzungspläne der Regierung Foto: dpa

Nach 14 Jahren, in denen die brasilianische Arbeiterpartei (PT) viermal die Wahlen gewonnen hatte, gelang es den konservativen Kräften 2016, sich neu aufzustellen, die gewählte Präsidentin Dilma Rousseff zu stürzen und durch den Vizepräsidenten Michel Temer zu ersetzen.

Dieser juristisch überaus zweifelhafte Coup wäre sicherlich nicht so leicht geglückt, wenn die PT zuvor nicht derart viele Fehler gemacht hätte. Sie schloss wiederholt Bündnisse mit rechten Parteien und Fraktionen und versuchte der Wirtschaftskrise vor allem mit Sparmaßnahmen zu begegnen, obwohl dadurch die Unzufriedenheit in der Gesellschaft und speziell ihrer Wählerschaft wuchs. Diese Politik hat es den Bürgern nicht gerade erleichtert, der Offensive von rechts Widerstand entgegenzusetzen.

Sobald Rousseffs regierungsinterner Widersacher Temer von der kleineren Koalitionspartei PMDB (Partei der Brasilianischen Demokratischen Bewegung) an die Macht gelangt war, legte er los. Sein Rezept: hemmungsloser Liberalismus in der Wirtschaft und kämpferischer Konservatismus in der Politik. Nach seinen ersten Entscheidungen zeichnet sich bereits jetzt eine Phase des gesellschaftlichen Rückschritts ab, wie er in den letzten zwanzig Jahren in Brasilien undenkbar gewesen war.

Mit der Zusammenstellung seines Kabinetts zeigte Temer, dass Diversität und Geschlechtergerechtigkeit nicht zu seinen Prioritäten zählen. Die Ministerien für Menschenrechte und für Landreform wurden abgeschafft. Gern hätte sich der neue Präsident auch des Kulturministeriums entledigt, gab den Plan aber angesichts heftiger Proteste aus der Kunst- und Kulturszene auf. Keine Frau, kein Schwarzer hat ein Ministeramt inne; es gibt nur alte weiße Männer, die gute Verbindungen zu den heimischen Oligarchien haben und von denen viele zudem unter Korruptionsverdacht stehen.

Dieser Artikel stammt aus der aktuellen Ausgabe von Le Monde diplomatique, der großen Monatszeitung für internationale Politik. LMd gibt es jeden Monat neu gedruckt und digital sowie zum Anhören. Das komplette Inhaltsverzeichnis der neuesten Ausgabe kann man hier nachlesen: www.monde-diplomatique.de/zeitung.

Temers engster Verbündete im Parlament, Senatspräsident Renan Calheiros (PMDB), wurde zwischenzeitlich seines Amts enthoben, da insgesamt 12 Ermittlungsverfahren gegen ihn laufen, dann aber doch wieder eingesetzt. Der einstige Präsident der Abgeordnetenkammer, Eduardo Cunha, ebenfalls PMDB, sitzt sogar seit Oktober 2016 in Untersuchungshaft. Und Temers Stabschef Vieira Lima musste Ende November ebenfalls den Hut nehmen.

Ohne die Wähler

Das Programm des neuen Präsidenten wird zwar von den Banken und Großunternehmen unterstützt, die Wähler hat er aber nie befragt. Bei einem Spitzentreffen mit den brasilianischen Arbeitgebern kündigte Temer an, er werde „nicht als Kandidat zur Wiederwahl“ antreten, und betonte, so könne er sich voll auf „den Schwerpunkt der Haushaltssanierung“ konzentrieren. Mit anderen Worten: Er wird umso stärker durchgreifen, als er nicht Gefahr läuft, den politischen Preis für die Maßnahmen zu zahlen, die er den Bürgern auferlegt – und es werden strenge Maßnahmen sein.

Das Wirtschaftsprogramm des Interimspräsidenten stützt sich auf drei Vorhaben: eine Verfassungsänderung, um die Staatsausgaben zu deckeln (abgekürzt PEC 241, später dem Senat als PEC 55 zur Abstimmung vorgelegt), eine Reform der Sozialversicherung und eine Lockerung des Arbeitsrechts. Alle drei nehmen Errungenschaften ins Visier, die hart erkämpft wurden.

Mit der Verfassungsänderung sollen die staatlichen Investitionen in allen Bereichen für 20 Jahre eingefroren werden. Wird sie verabschiedet, dann könnte der Bundeshaushalt bis zum Jahr 2037 nicht real, sondern nur im Rahmen des Inflationsausgleichs wachsen – im Gegensatz zum Bevölkerungswachstum, das weiter voranschreitet. Dieses im internationalen Vergleich beispiellose Vorhaben kommt einer weitgehenden Aushöhlung öffentlicher Dienste und der Abschaffung aller Sozialprogramme gleich.

Der Vorwand der Regierung lautet, sie müsse das Haushaltsdefizit ausgleichen und die Schulden zurückfahren. Dabei beträgt die Staatsverschuldung lediglich 66 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP), also weitaus weniger als in den meisten EU-Staaten. Nach der Abgeordnetenkammer hat auch der Senat Mitte Dezember der Verfassungsänderung zugestimmt, trotz massiver Proteste von Bürgern und zahlreichen NGOs. Damit greift die neue Regelung bereits für den Haushalt 2017.

Die Unterstützung der Wirtschaftseliten

Nicht weniger beunruhigend ist die Reform der Sozialversicherungssysteme. Temer greift dafür eine Idee Dilma Rousseffs auf, die bereits die Ausgaben beschneiden wollte, und führt sie noch weiter. Bislang liegen dem Kongress keine Details zum Reformplan vor, aber man weiß schon, dass das Renteneintrittsalter auf 65 Jahre steigen soll, wobei in einigen Regionen des Landes nicht einmal die Lebenserwartung diese Marke erreicht.

Im dritten Projekt Temers geht es darum, das Arbeitsrecht zu flexibilisieren und Personalkosten zu senken, indem man in sämtlichen Wirtschaftssektoren Subunternehmen zulässt und Vereinbarungen zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern Vorrang gegenüber dem Gesetz einräumt. Dieser Punkt stützt sich auf ein Gesetzesvorhaben, das bereits ins Parlament eingebracht wurde: Arbeitsverträge, die nicht mit geltendem Recht vereinbar sind, werden legalisiert, sofern sie zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern ausgehandelt wurden.

Das Renteneintrittsalter soll auf 65 Jahre steigen, wobei in einigen Regionen des Landes nicht einmal die Lebenserwartung diese Marke erreicht.

Mit diesem Programm gewann Temer schließlich die Unterstützung der – zunächst zögerlichen – Wirtschaftseliten für die Amtsenthebung Dilma Rousseffs, die auf eine Initiative der parlamentarischen Rechten zurückging. Die Präsidentin hatte zuvor selbst versucht, die Wirtschaftsvertreter zu besänftigen, indem sie 2015 die Grundlagen für ein Strukturanpassungsprogramm gelegt und eine Reform der Sozialversicherung angekündigt hatte. Ihre Rechnung ging jedoch nicht auf: Die Maßnahmen verschärften nur die Rezession und die Unzufriedenheit der Bevölkerung; den Unternehmen und Banken dagegen schien Rousseff zu unentschlossen, deshalb entschieden sie sich für Temer.

Roussefs Sturz markiert für Brasilien das Ende einer Epoche. Seit 2003 hatten die Regierungen unter Lula da Silva und Dilma Rousseff an einem Arrangement gearbeitet, das soziale Fortschritte und eine Verbesserung der Lebensbedingungen der Ärmsten erreichen konnte, ohne die Interessen der Reichsten zu bedrohen. Die Armut ging zurück, die Profite stiegen sprunghaft an. Lula da Silva war so zum großen Architekten einer „Politik des Ausgleichs“ geworden.

Die Schulden der herrschenden Klasse

Die unteren Schichten der Gesellschaft profitierten von der Anhebung des Mindestlohns, der wachsenden Kaufkraft der Arbeiter und von Sozialprogrammen zur Armutsbekämpfung, vom besseren Zugang zu Wohnungen, Gesundheitsversorgung und universitärer Bildung. Die oberen Schichten kamen in den Genuss von Krediten der Brasilianischen Entwicklungsbank (BNDES) und großzügigen Steuerbefreiungen; ihre historischen Privilegien wurden nicht angetastet.

Trotz rückläufiger Steuereinnahmen wurde an diesem System nichts geändert, genauso wenig wie an der Konzentration von Grund- und Immobilienbesitz in den Händen der Oligarchie. Die PT setzte immer stärker darauf, stets einen Primärüberschuss zu erzielen, um Schulden zu bezahlen, die großenteils von den herrschenden Klassen im Land verursacht wurden. Auch hat sie niemals versucht, den Zugriff des Privatsektors auf die Medien zu beschränken oder die Korruption, den Schmierstoff des übernommenen politischen Systems, zu beenden.

Eine Demonstrantion steht mit ausgebreiteten Armen vor einem Polizeischutzschild. Ein Polizist sprüht ihr aus nächster Nähe Tränengas ins Gesicht

Die Polizei geht brutal gegen Demonstranten vor Foto: dpa

Dieses als Win-win-Abkommen präsentierte Modell funktionierte nur, solange die Wirtschaft wuchs, und das war lange der Fall (durchschnittlich 4 Prozent in beiden Amtszeiten Lula da Silvas), vor allem dank günstiger internationaler Bedingungen: steigende Preise für Konsumgüter und Wachstum in China. In dieser Situation konnte der Staat auch ohne die geringste Strukturreform Devisenvorräte anhäufen und immer mehr Sozialprogramme auflegen.

Mit der Wirtschaftskrise von 2008 und der veränderten Weltlage brach das Modell zusammen. Die antizyklische Politik Lula da Silvas konnte im Jahre 2009 zunächst noch das Wirtschaftswachstum aufrechterhalten und die Katastrophe hinausschieben. Aber unter der Regierung Rousseff zeigte sich 2014, dass das Win-win-Abkommen nicht mehr funktionierte. Der Handlungsspielraum zur Vereinbarung derart unterschiedlicher Interessen war zu sehr geschrumpft, und die Antwort der Präsidentin – die Sparpolitik – verschärfte die Krise noch.

Unfähig zur Selbstkritik

Die Demonstrationen vom Juni 2013 markierten das Ende des gesellschaftlichen Konsenses, der die Vorherrschaft der PT garantiert hatte. Die Verfahren im Korruptions- und Geldwäscheskandal „Lava Jato“ beschädigten das Image der Partei und verringerten zugleich die Investitionsmöglichkeiten des staatlichen Ölkonzerns Petrobras und der Großkonzerne. Die parlamentarische Mehrheit der Regierung implodierte, während die Rechte sich wieder zusammenfand. Damit war die strategische Niederlage der PT und ihr institutionelles Scheitern besiegelt.

In dieser Situation stehen die brasilianische Linke und die sozialen Bewegungen vor neuen Schwierigkeiten. Der Niedergang der PT hat das gesamte progressive Lager mitgerissen und die Offensive der Konservativen und Liberalen befeuert. Die Korruptionsskandale haben die moralische Autorität derjenigen, die in den Augen der Bevölkerung die Linke verkörpern, stark beschädigt. Und die Unfähigkeit der Partei, echte konstruktive Selbstkritik zu üben und zu analysieren, warum ihre Politik gescheitert ist, verschärft die Krise weiter.

Die Arbeiterpartei war 35 Jahre lang die treibende Kraft der brasilianischen Linken. Sie bot ein Forum, in dem sich die Kräfte der sozialen Bewegungen und progressiven gesellschaftliche Gruppen bündeln konnten. Heute kann sie diese Rolle kaum noch übernehmen. Das bedeutet nicht, dass die Partei tot ist, wie manche Leitartikler suggerieren. Lula da Silva verfügt weiterhin über starken Rückhalt in der Bevölkerung; bei den nächsten Präsidentschaftswahlen hätte er trotz des laufenden Gerichtsverfahrens und der Rufmordkampagne der Medien gute Chancen. Die Partei jedoch hat viel von ihrer Energie und Mobilisierungskraft eingebüßt – sie ist gealtert.

Wie wird die Linke in dieser Situation reagieren – zumal bislang keine politische Gruppierung aufgetaucht ist, die den Platz der PT einnehmen könnte? Es gibt natürlich einen großen Zorn über die Verfassungsänderung und über die Korruption führender Politiker wie Senatspräsident Calheiros. Die Wohnungslosen haben Massendemonstrationen in den Großstädten organisiert, und eine kleine Gruppe ehemaliger PT-Abgeordneter hat sich zusammengefunden, um mit der Partei Sozialismus und Freiheit (PSOL) eine mehr links ausgerichtete Partei zu gründen. Doch all diese Initiativen stellen noch keine Lösung dar.

Bruch und Konfrontation

Die Linke steht nämlich vor zwei großen Herausforderungen. Die erste besteht darin, die Proteste gegen die Regierung Temer auszuweiten und den Menschen die schwerwiegende Bedeutung der Regierungsmaßnahmen zu vermitteln. Die zweite wäre, ein neues politisches Lager der Linken zu schaffen, wobei man sich vor Augen halten muss, dass die Zeit des Konsenses vorbei ist. Zur Stunde kann es ohne Bruch oder Konfrontation nicht den kleinsten gesellschaftlichen Fortschritt geben. Die Elite und die Rechte haben das verstanden; ein Teil der Linken zögert immer noch.

Die Erneuerung der Linken wird davon abhängen, ob sie in der Lage ist, eine antihegemoniale Lösung anzubieten. Kann sie das nicht, wird die durch die Krise verstärkte soziale und politische Unzufriedenheit von der Neuen Rechten kanalisiert, ähnlich wie es durch Figuren wie Donald Trump in den USA, Nigel Farage in Großbritannien oder Marine Le Pen in Frankreich geschehen ist. Eine solche Entwicklung ist auch in Brasilien vorstellbar.

Die Linke muss eine Radikalität wiederfinden, von der sie sich einst bewusst verabschiedet hat: eine demokratische Radikalität mit dem Ziel politischer Partizipation und einer Vertretung der gesamten Vielfalt Brasiliens, eine strategische Radikalität, mit einem ambitionierten Programm für eine Veränderung der Gesellschaft, um den Menschen wieder Hoffnung zu geben. Derzeit ist noch nicht klar, welche institutionelle Gestalt das linke Lager annehmen wird und wie lange es dauern wird, sie zu finden. Aber es wird jeden Tag deutlicher, wie sehr sie gebraucht wird.

Aus dem Französischen von Sabine Jainski

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ist Landeskoordinator der Bewegung der obdachlosen Arbeiter (MTST) und des Bündnisses Volk ohne Angst (Povo sem medo).

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