Debatte Koedukation an Schulen: Stimmbruch, Schweiß, Schwimmbad

Schwimmunterricht ist verpflichtend, so der Europäische Menschenrechtsgerichtshof. Ob Koedukation zu mehr Gleichberechtigung führt, ist offen.

Ein Mädchen mit roten Haaren taucht mir ausgebreiteten Armen

Schöner schwimmen ohne Jungs. Zumindest in der Pubertät kann es gut fürs Selbstbewußtsein sein, unter sich zu bleiben Foto: ap

Am Dienstag dieser Woche hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte beschlossen: Zwei Schweizer Schülerinnen dürfen sich aufgrund ihrer Religion nicht dem Schwimmunterricht entziehen. Die erwartbare Reaktion der Mehrheit auf diesen Einzelfall: Gut so, denn der gemeinsame Unterricht von Jungen und Mädchen, die Koedukation, ist schließlich eine Errungenschaft des Westens. Erst die Modernisierung des Schulsystems machte gemischtgeschlechtliche Klassen möglich.

Doch Mädchen und Jungen werden an deutschen Schulen ohnehin oft im Sportunterricht getrennt. Auf einem Dresdner Gymnasium konnte sich die Autorin dieses Textes nur bei Schulfesten mit den Jungs im Kugelstoßen messen – und musste vermutlich gerade Rhythmische Sportgymnastik betreiben, als die kleinen Herren Kraftübungen machen durften. Auch vor Raumtrennern in der Turnhalle schreckte seinerzeit niemand zurück.

Eingeübte Rollenklischees

Aber zurück zur Koedukation. Bereits in den 1980ern wurde Kritik am gemeinsamen Lernen von Mädchen und Jungen geübt. Einerseits zeigen Studien, dass Mädchen in reinen Mädchenklassen in typischerweise als männlich konnotierten Fächern besser abschneiden – also Informatik, Physik, Mathematik; you name it. Die Gründe dafür sind nicht abschließend geklärt. Mädchen trauen sich aufgrund früh eingeübter Rollenklischees oft weniger zu und werden bei falschen Antworten von den Jungs lauter verlacht. Außerdem stehen sie Lehrer_innen gegenüber, deren unbewusste Erwartungshaltung ist, dass ein Junge die Basics des Programmierens eben besser lernt.

Männerrechtler kritisieren wiederum, dass das Bildungssystem Jungs diskriminiere. Vor allem habe dies mit dem hohen Frauenanteil unter den Lehrer_innen zu tun. So weit muss man nicht gehen. Aber wer in den letzten zwanzig Jahren die Schulbank gedrückt hat, weiß, dass typisches Jungs­verhalten in der Schule hart sanktioniert wird – egal ob von Männern oder Frauen. Wer nicht brav und still hinter dem Tisch sitzt, wird gemaßregelt. Fleißige Mädchen werden gelobt – und bekommen die besseren Noten. Weil fleißig sein demnach Mädchenkram ist, finden Jungs solches Betragen uncool und strengen sich mitunter weniger an.

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Es ist nun so: Weil Jungs und Mädchen zusammen lernen, heißt das noch nicht, dass die Geschlechtersozialisation gleichberechtigter ist. Doch daraus zu schließen, wir sollten wieder flächendeckend Jungen- und Mädchenschulen einführen, wäre realitätsfern. Die Welt sieht nun einmal anders aus und grundsätzlich sind alle Geschlechter mit einem gleich hohen Nerv- wie Liebespotenzial ausgestattet. Andererseits akkumuliert sich das Drama der Geschlechter in einem ganz bestimmten Zeitraum, nämlich der Pubertät.

Die Lösung des Problems könnte ganz einfach sein: Von der 7. bis zur 10. Klasse gehen Mädchen und Jungen getrennt zur Schule – also auch zum Schwimmunterricht in der Mittelstufe. In dieser Zeit, zwischen 12 und 16 Jahren, fühlt sich so ziemlich jeder Teenie unwohl in seiner oder ihrer Haut. Alles ist peinlich. Stimmbruch, Schweiß, Brüste.

Heimlich tanzende Tampons

Mädchen eignen sich in dieser Zeit eine ausgeklügelte Choreografie an, um sich gegenseitig mit Tampons zu versorgen. Eine Hand gleitet unauffällig in die Schultasche, kommt den Tampon dicht umschließend wieder hervor und trifft auf eine andere umschlossene Hand, die sich nur für den Bruchteil einer Sekunde für die Übergabe öffnet. Glückt die Choreografie einmal nicht und der Tampon landet auf dem Fußboden, wird er von den fasziniert-angeekelten Jungs sofort in Wasser getunkt und fortan als Wurfgeschoss benutzt. Peinlich.

Auch peinlich: Jungs, die nicht aufstehen können, weil sie mit ihrer Dauererektion die Aufmerksamkeit auf sich ziehen würden. Am Ende fragt noch eine, wie die denn wohl zustande kam – und wer will da schon zugeben, dass ein ärmelloses T-Shirt der Ethiklehrerin auslösend war. Kurzum: In der Pubertät haben alle Geschlechter ihre ganz eigenen Probleme und ziehen sich deshalb ohnehin in die eigene Girl- oder Boy- Gang zurück. Erst mit 17, 18 Jahren, in der Oberstufe, ist das Gröbste überstanden. Alle fühlen sich erwachsen und haben größtenteils den Feind im System statt im Gegenüber identifiziert.

Für Mädchen, hetero- wie homosexuelle, wäre eine Mädchenklasse auf Zeit sicherlich keine allzu abschreckende Vorstellung. Für einen schwulen 13-jährigen Jungen? Wahrscheinlich schon. Auf Schulhöfen gilt „schwul“ als Schimpfwort, dort sind es häufig eher die Mädchen, die Freundschaft mit diesen Jungs schließen. Doch es gibt Hoffnung: Pädagog_innen haben berichtet, dass Jungen in Jungsklassen durchaus sensibler ihren eigenen Gefühlen gegenüber sind, sich eher öffnen.

Pädagog_innen haben berichtet, dass Jungen in Jungsklassen durchaus sensibler ihren eigenen Gefühlen gegenüber sind, sich eher öffnen

Könnte die Jungenklasse auf Zeit also ein Schutzraum sein, um neue Formen von Männlichkeit zu entwickeln? Ohne Mädchen, vor denen irgendwer den Starken geben muss. Und für welches Lager sollten sich Jugendliche mit einer Transidentität entscheiden? Es ist das wiederkehrende Problem von Schutzräumen: Sie müssen definiert werden und können so ungewollte Ausschlüsse erzeugen.

Doch das hier vorgeschlagene Konzept einer temporären Geschlechtertrennung kann funktionieren, wenn das erklärte Ziel tatsächlich die Gleichberechtigung der Geschlechter ist. Die Lehrkräfte müssen dann allerdings entsprechend ausgebildet werden.

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Stellvertretende Chefredakteurin der taz seit April 2016. Vorher Chefredakteurin des Missy Magazine. Aufgewachsen in Dresden. Schreibt über Kultur, Feminismus und Ostdeutschland. In der Chefredaktion verantwortlich für die digitalen Projekte der taz. Jahrgang 1985.

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