Kritische Edition von „Mein Kampf“: „Das Böse ist uns doch viel näher“

2016 erschien die kommentierte Fassung von „Mein Kampf“. Und viele hatten Angst. Wie sollte man damit umgehen? Zu Besuch bei zwei Strategen.

Eine Ausgabe des Buches "Mein Kampf" wird aus einem Bücherregal gezogen. Auf dem Cover ist das Gesicht Adolf Hitlers zu sehen

Blickt düster vom Cover einer alten Ausgabe: Adolf H. Foto: dpa

Hitlers Worte würden „umzingelt“, schrieben manche der Herausgeber, aber auch viele Journalisten, als Ende 2015 die Urheberrechte an „Mein Kampf“ ausliefen und das Münchner Institut für Zeitgeschichte einige Tage später die erste kritische Edition von Hitlers Hetzschrift veröffentlichte. Für die hatte ein handverlesenes Team von Historikern Judenhass und Propaganda mit 3.700 Anmerkungen seziert. „Umzingelt“, schrieben einige Herausgeber und Journalisten also, als wollten sie mit diesem Wort beruhigen, dass die Schrift noch immer bewacht werde.

Eine vorauseilende Angst lag in den Worten, die dem Text eine große Macht gab, hingegen den Menschen sehr klein machte. Eine Unsicherheit darüber, ob die kritische Edition für Nazis tatsächlich ungenießbar sei. Und darüber, ob alle anderen nicht doch plötzlich der Hetze verfallen könnten.

Ein Jahr nach der Veröffentlichung wurde die kritische Edition 85.000-mal verkauft, stand zwischendurch auf Platz 1 der „Spiegel“-Bestsellerliste. Noch im Januar soll die sechste Ausgabe erscheinen. Was ist aus der Angst geworden?

Ein Hotel in Stralsund, draußen nasse Endnovemberkälte, drinnen Teppichboden, gefällige Laubwaldfotografien an den Wänden. Um die „Wirkung einer Hetzschrift bis in die Gegenwart“ soll es gehen, bei der Tagung, die das forum65+ organisiert, eine von der Bundeszentrale für politische Bildung geförderte Initiative.

Am Rednerpult: Roman Töppel, kinnlanges schwarzes Haar, randlose Brille. Der Militärhistoriker, dem mal jemand sagte, er sei doch eigentlich zu nett für Hitler, gehörte zu den vier Herausgebern der kritischen Edition. Töppel tingelte im vergangenen Jahr durch Deutschland. „Besonders viel Spaß machen Veranstaltungen mit Schülern, weil die noch aus Neugier fragen und nicht nur, um die eigene Meinung bestätigt zu bekommen“, sagt er.

Ängste versachlicht

Töppel sprach schon in der Fachoberschule Holzkirchen für einen Händedruck und eine Flasche Wein über Hitler, stritt bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung darüber, ob die kritische Edition Opfergedenken verletzt. Begleitet von Töppel las der Schauspieler Götz Otto, der vor allem mit Nazi-Rollen in Filmen wie „Der Untergang“ bekannt wurde, im November in Hamburg aus „Mein Kampf“.

Auch da war eine Angst wieder da, die dem Text viel Macht gab. Weil man befürchtete, die Veranstaltung könne geschmacklos werden. Aber dann scheiterte Otto mit schönster Vorleserstimme an Hitlers judenfeindlichen Schachtelsätzen über übel riechende Kaftanträger. Und Töppel führte jede Passage mit Fachwissen ein. Die Ängste wurden versachlicht, die stilistische Unerträglichkeit des Buchs trat klar hervor.

Dass Töppel immer wieder betont, für Nazis spiele das Buch inhaltlich keine Rolle mehr, weil vieles ohnehin nur mit historischem Fachwissen verständlich wird, wurde eindrucksvoll plausibel: „Überhaupt habe ich (…) immer wieder warnen müssen vor jenen deutschvölkischen Wanderscholaren, deren positive Leistung immer gleich Null ist (…)“, schreibt Hitler etwa im zwölften Kapitel des ersten Bandes. Dass er mit den „Wanderscholaren“ seine norddeutschen Konkurrenten von der Deutschvölkischen Freiheitspartei DVFP meint, weiß nur, wer sich mit der rechtsradikal-völkischen Szene im Deutschland der zwanziger Jahre gut auskennt.

Auch heute in Stralsund macht Töppel den Horizont größer: erweitert Wissen, wenn er belegt, dass Hitler im Kapitel „Volk und Rasse“, das als der zentrale ideologische Abschnitt gilt, am schwächsten argumentierte, weil er selbst vom rassentheoretischen Stand der zwanziger Jahre keine Ahnung hatte. Töppel zitiert aus „Mein Kampf“ einen Satz, in dem Hitler vom „Leuchten parlamentarischer Schimmelkulturen“ schrieb. Und die Zuhörer müssen sich fragen, ob sie Hitler auch witzig finden dürfen. Es ist die ideale Diskurssituation, um autoritärem Denken den Zauber zu nehmen, denkt man später. Ein bisschen auch wie der real gelebte Gegensatz zur Facebook-Kommentarspalte. Weil es um das wirklich ganz genaue Auseinandernehmen, nicht um die unbedingte Verteidigung der eigenen Meinung geht.

Haltung durch Boykott

Zweimal fragten Kunden im vergangenen Jahr bei Christiane Hahn nach der kritischen Edition. Und Hahn sagte zweimal, dass sie das Buch nicht bestellt. Hahn, Besitzerin der Buchhandlung Anakoluth in Prenzlauer Berg, weigert sich seit dem Erscheinen, die kritische Edition von „Mein Kampf“ zu verkaufen. Wer erst Roman Töppel in Stralsund trifft und dann Christiane Hahn in Berlin, denkt vor der Verabredung mit ihr, dass ihre Haltung die falsche ist. Wer mit beiden gesprochen hat, denkt, dass unterschiedliche Meinungen selten so viel Wert haben.

Hahn, kurze Haare, 48, geht der Titel nicht leicht von den Lippen. Dann sagt sie es doch: „Mein Kampf“. Ist es also auch die Angst vorm Buch? „Nö“, sagt sie, ehrlich erstaunt. Angst sei sowieso nie gut, weil: mache doch klein. „Ich bin mir bewusst, dass die kritische Edition durch die Anmerkungen aufklären kann. Aber ich will persönlich nicht an der Verbreitung eines so menschenverachtenden Textes beteiligt sein. Ich komme ja auch irgendwoher.“ Sie erzählt von ihrer Großmutter, die in Berlin-Mitte zwischen vielen jüdischen Familien lebte, und vom Grauen nur wenige Sätze über Lkws erinnern wollte, die in Nächten vor den Häusern der Nachbarn hielten.

„Das Buch nicht zu verkaufen ist meine Chance, eine Haltung zu zeigen“, sagt Hahn. „Und ich weise auch immer darauf hin, dass das Buch ja anderswo zugänglich ist, in Bibliotheken etwa.“ Hahn muss auch aushalten, wenn Kunden irritiert, angegriffen reagieren, sich abgewertet fühlen durch ihre Weigerung.

Interessant aber, dass auch hier eine Möglichkeit zur Auseinandersetzung steckt: Einer, der nach der kritischen Edition fragte, ein Stammkunde, Hahn selbst würde ihn als geschichtsinteressierten Linken einordnen, schrieb ihr nachts noch eine lange Mail, um sich zu erklären. Er griff auch ihre Haltung an. Sie antwortete ihm trotzdem. Knapp, aber sie antwortete. Der Mann kommt heute noch immer in ihr Geschäft.

Und die Rechten heute?

Er würde auch mit der AfD sprechen, sagt Töppel. „Wäre doch hochinteressant, eine bildungspolitische Veranstaltung mit einem AfD-Politiker.“ Aber hier stößt der Diskurs an seine Grenzen. Entsteht die Sprachlosigkeit, weil ein Gespräch an dieser Stelle moralisch nicht geboten scheint? Gibt es seitens der neuen Rechten eine Angst vor Entlarvung? Könnte eine Veranstaltung bei der AfD ohne Störungen durch Linke ablaufen? Gute Fragen. Klar ist nur: Die AfD lud Töppel bisher noch nicht ein. Doch auch heute in Stralsund gibt es die vorauseilende Vorsicht. „Wer weiß, ob nicht doch jemand stört“, sagt der Mann vom forum65+. Auch deshalb wurde die Polizei informiert, gerade in Vorpommern habe er da eine große Sensibilität. „Usedom ist ja nicht weit.“ Auf der Ostseeinsel wählten bei den Landtagswahlen im vergangenen September 5,6 Prozent NPD und 46,8 Prozent AfD.

Aber es kommen dann nur Museumsleiter, Sozialpädagoginnen. Keine Rechten. Waren eh noch nie da bei Töppel. Der Staatsschutz, der neulich seinen Vortrag in Frankfurt an der Oder begleitete, hatte nichts zu tun.

Stattdessen fordern Menschen aus dem Publikum immer wieder, dass Töppel über das rechts von heute spricht. Auch in Stralsund sagt eine Frau, bei Hitlers Ausführungen über die Beeinflussung der Massen, in denen er schreibt, auch der Dümmste müsse Propaganda verstehen, würde doch jeder automatisch an Trump denken. Töppel ist dann ein bisschen genervt. „Lasst mal die Kirche im Dorf. Trump, aber auch AfD oder Pegida haben wenig zu tun mit ‚Mein Kampf‘“.

Für ihn sind solche Parallelen schwierig, weil sie plump vergleichen, statt sich mit unterschiedlichen historischen Momenten auseinanderzusetzen. „Das dämonisiert und sperrt aus“, sagt Töppel. „Man braucht keine Hitlerkeule, um die Menschenverachtung zu erkennen, die eben auch in„Mein Kampf“steckt. Das Böse ist uns doch viel näher. Der Sozialdarwinismus, dass nur der das Leben verdient, der es als Kampf begreift, hat etwas Zeitloses, auch wenn wir heute häufig so demokratisch tun.“

Hahn bietet nicht nur die kommentierte Edition nicht an, sondern auch andere bestimmte Bücher nicht, zum Beispiel aus dem Kopp-Verlag, der rechte Literatur veröffentlicht, häufig mit Verschwörungstouch. Wo genau ihre Grenze liegt, kann sie nicht genau greifen, sagt dann: „Wenn es so ein Ansagetext ist, ohne Zwischentöne.“

Man könnte sagen, Hahn werfe historische Aufklärung zusammen mit Publikationen der neuen Rechten in einen Topf. Vielleicht sucht sie aber auch einfach nach den Spuren von dem, was Töppel als zeitlosen Sozialdarwinismus versteht.

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