Schriftstellerin Ilse Aichinger ist tot: „Ich möchte nie dagewesen sein“

Sie galt als eine der sprachmächtigsten Autorinnen Österreichs. Mit 95 Jahren ist Ilse Aichinger nun gestorben. Sie hatte zeitlebens eine große Todessehnsucht.

Heinrich Böll, Ilse Aichinger und Günther Eich

1952 während der Tagung der Gruppe 47: Ilse Aichinger mit Heinrich Böll (l.) und Günther Eich Foto: dpa

WIEN dpa | Ihr Werk galt den einen als präzis-poetisch, auf die anderen wirkte es streng, hellsichtig und oft geisterhaft: Die österreichische Dichterin Ilse Aichinger ist am Freitag mit 95 Jahren in Wien gestorben, wie ihre Tochter Mirjam Eich der Deutschen Presse-Agentur in Berlin sagte. Mit Erzählungen, Gedichten und Hörspielen gehörte Aichinger zu den berühmten Nachkriegsautorinnen weit über die Alpenrepublik hinaus.

Ihr Roman „Die größere Hoffnung“ machte Aichinger 1948 schlagartig bekannt. Das Buch dreht sich um eine Gruppe jüdischer Kinder im Wien der Nazi-Zeit. Die Furcht vor der Verfolgung wird darin zur Hoffnung auf etwas Größeres: Auf Leben und Tod, der Annahme des Leidens und Mut zur Angst.

Spätere Werke waren Hörspiele wie „Knöpfe“, Erzählungen wie „Eliza, Eliza“ oder „Kleist, Moos, Fasane“ und Gedichte („Verschenkter Rat“, 1978). In ihrer eigenwilligen, geheimnisvoll verrätselten Sprache verband Aichinger analytische Beobachtung mit poetischer Kraft. Als sie 2002 den Ehrenpreis des Ehrenpreises des Österreichischen Buchhandels erhielt, wurde der Toleranz-Charakter ihres Werks gewürdigt. Es beschreibe „auf vielschichtige Weise die Möglichkeiten, die Barrieren zwischen konstruktivem Zusammenleben und gegenseitigem Unverständnis zu überwinden“.

Deutschlands Kulturstaatsministerin Monika Grütters nannte Aichinger eine Autorin, „die sich tief in das deutsche Gedächtnis eingeschrieben hat“. In „Die größere Hoffnung“ habe sie Worte gefunden „für das Unbeschreibliche, für den Schmerz, den sie während der nationalsozialistischen Terrorherrschaft erleiden musste. Mit ihren klugen Texten regte sie stets zum Nachdenken über unsere Gegenwart und über letzte Fragen menschlicher Existenz an“, sagte Grütters.

Aichinger stammte aus einer jüdischen Familie, die Mutter war Ärztin, der Vater Lehrer. Traumatisch erlebte sie die Trennung von ihrer Zwillingsschwester, die mit einem der letzten Kindertransporte nach England geschickt wurde.

Sie selbst überlebte die Nazi-Zeit mit ihrer Mutter in einem Versteck nahe der Gestapo-Zentrale in ihrer Geburtsstadt Wien. Nach dem Krieg begann sie ein Medizinstudium, das sie abbrach. In den 50er Jahren war sie wiederholt zu Treffen der „Gruppe 47“ eingeladen und erhielt 1952 im Ostseebad Niendorf für die Erzählung „Spiegelgeschichte“ die Auszeichnung der Gruppe. Der Text erzählt das Leben rückwärts – von der Bahre bis zur Wiege. Eine Todessehnsucht, ein Wunsch nach Auslöschung des Daseins durchzog ihr Leben. „Ich möchte weg sein, eigentlich nie dagewesen sein“, sagte sie einmal.

Bei einer der Tagungen lernte Aichinger auch den Schriftsteller Günter Eich kennen, den sie 1953 heiratete und mit dem sie zwei Kinder bekam. Eines davon ist die Tochter Mirjam Eich. Die Familie lebte lange Zeit in Bayern, bevor Ilse Aichinger nach dem Tod ihres Mannes nach Frankfurt/Main zog. Seit fast 30 Jahren lebte sie wieder in Wien.

Gleichzeitig mit ihrem schriftstellerischen Wirken arbeitete sie auch als Lektorin. Aichinger wurde unter anderem mit dem Petrarca-Preis, dem Nelly-Sachs-Preis, dem Georg-Trakl-Preis sowie dem Kafka-Preis ausgezeichnet.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.