Roman „Marie“ von Steven Uhly: Das Mädchen aus dem Müll

Der Schriftsteller Steven Uhly schreibt über eine einsame Mutter und das Leben ihrer Kinder. Das Übel der Familie ist ein lang gehütetes Geheimnis.

Mülltonnen vor einer Wand

Trägt eine große Bedeutung im Roman: die Mülltonne Foto: kallejipp/photocase

Veronika Kelber fühlt sich fremd in ihrem Leben. Sie hat drei Kinder und erzieht sie allein. Der Vater hat sie verlassen und zeigt auch kein sonderliches Interesse an seinem leiblichen Nachwuchs. Sie würde am liebsten hinschmeißen. Als eine lethargische Frau wird diese Mutter vorgestellt, die in ihrem Dasein feststeckt: „Sie schaut in den Spiegel, intensiv, unverwandt, als wolle sie durch ihre Augen in ihren eigenen Kopf hineinschauen. Die Wahrheit ist, dass sie sich so schrecklich allein fühlt, so schrecklich allein, dass alles sinnlos wird, alles.“

Mit dieser Grundstimmung leitet Steven Uhly die Geschichte ein von Veronika Kelber und ihren Kindern Frido, Mira und Chiara, zwölf, zehn und sechs Jahre alt, die um ihre Existenz ringen. Die Kinder stecken mit in der Klemme. Auch sie müssen das Leben mit ihrer Mutter meistern und versuchen nicht zu sehr zu stören, damit es ihr nicht noch schlechter geht. Der Älteste, Frido, ist als Zwölfjähriger fast erwachsen. Mira ist distanziert. Und die Jüngste, Chiara, legt sich einfach einen zweiten Namen zu, mit dem sie sich anders fühlt.

Der Roman beginnt mit einem Schlag: Chiara fängt sich eine Ohrfeige der Mutter ein, weil sie sich plötzlich Marie nennt. Den Namen hat sie aus einer Gutenachtgeschichte von ihrem Bruder. In der ging es um ein Baby namens Marie, das geklaut wurde. Chiara weiß nicht, warum sie sich nicht Marie nennen darf, ist aber sehr begeistert von der Geschichte. Sie weiß nicht, dass die Geschichte eigentlich gar keine ist, in Wahrheit aber anders verlief. Sie war das Baby. Die Mutter hatte ihre Tochter in eine Mülltonne geworfen, als sie ein paar Monate alt war. Durch die wohlwollende Lüge eines fremden Retters hatte sie nie eine Strafe bekommen. Doch die Tat hängt nach.

Steven Uhlys Familienroman handelt von den Schuldgefühlen einer Mutter, von einem großen Verdrängungsakt und der nahezu bedingungslosen Liebe der Kinder, die alles versuchen, um sie und ihre Familie nicht umfallen zu lassen. Doch das klappt nicht. Die Anstrengung fällt immer wieder auf. Um dieses Dilemma zu erzählen, changiert Uhly sprachlich sehr zugewandt zwischen dem Wollen und tatsächlichen Tun der Figuren. Die Verletzungen, die da zu Tage treten, scheinen Resultat der familiären Verweigerungshaltung zu sein: besser so leben als den letzten Rest Stabilität verlieren.

Vielleicht wird alles gut

Doch genau das tut Uhly, er schreibt auf die Eskalation hin. In kurzen Kapiteln, die wirken, als wären sie das visuelle Pendant der Verdrängung, des raschen, aber nicht verstehenden Blicks auf den Ablauf der Dinge, verfolgt man mit, wie die Mutter sich immer weiter in sich vergräbt und die Kinder versuchen, allein füreinander zu sorgen.

Das trägt ab und an tragikomische Züge. Manchmal essen die Kinder abends Butterbrote und zum Nachtisch geklaute Schokolade, wenn die Eltern unerreichbar sind – und auch kein Geld dagelassen haben.

Steven Uhly: „Marie“. Secession Verlag, Zürich 2016, 230 Seiten, 20 Euro

Die Leserschaft weiß möglicherweise um das Schicksal von Chiara. Denn „Marie“ ist die Fortsetzung des Romans „Glückskind“. Darin wurde die Geschichte von Hans erzählt, der schon allen Mut verloren hatte, bevor er das Baby aus dem Müll rettete. Auch in diesem zweiten Teil war Hans nie weg, er arbeitete immer in einem Kiosk um die Ecke. Sein Wiederauftauchen ist zugleich Bedrohung und möglicher Neubeginn.

Vielleicht wird ja alles gut, so die Hoffnung, die einen beim Lesen nicht loslässt. Man weiß es aber am Ende nicht so recht.

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